O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Stefan Brion

Aktuelle Aufführungen

Hochdramatische Erotik

BREAKING THE WAVES
(Missy Mazzoli)

Besuch am
31. Mai 2023
(Premiere am 28. Mai 2023)

 

Opéra Comique, Paris

Die Handlung dieser 2016 in enger Zusammenarbeit der Komponistin Missy Mazzoli mit dem Textbuchdichter Royce Vavrek in Philadelphia kreierten Oper ist von Lars von Triers gleichnamigem, sehr umstrittenem Film inspiriert, der 1996 beim Festival de Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde. Die Oper erhielt 2017 den International Opera Award für die beste Neuschöpfung.

Diese Aufführung ist eine Koproduktion mit Opera Ventures, Scottish Opera und Houston Grand Opera und eine Ko-Präsentation mit dem Edinburgh International Festival.

„So wie die Wellen der Nordsee an der Ölplattform zerbrechen, macht ihr Glaube und ihre unerschütterliche Liebe es Bess möglich, Opfer zu bringen, die der Gesellschaftsmoral widersprechen.“ Die Oper erzählte die Geschichte von Bess, die in einer streng calvinistischen Gemeinde in Schottland lebt und sich dort in Jan, einen ausländischen Arbeiter auf einer Ölplattform, verliebt und ihn heiratet. Als Jan bald darauf durch einen Unfall gelähmt wird, ermuntert er Bess, bei anderen Männern Lust zu suchen und ihm nachher davon zu erzählen, damit auch er noch am Leben teilhaben kann. Der Vorschlag widerstrebt ihr sehr, aber sie lässt sich überzeugen, als sie merkt, dass es Jan Besserung verschafft. Ja, es wird für die exaltierte junge Frau wie zu einem mythischen Opferritus – My body is a map of my life with Jan singt sie weihevoll. Doch die strenge Kirche sieht das anders und schließt sie als Sünderin aus ihrer Gemeinschaft aus, was Bess nicht versteht, weil sie ja nur ihrem Mann gehorcht, wie die Kirche es vorschreibt, und ihm überdies Besserung verschafft. Als Bess schließlich von Matrosen vergewaltigt und ermordet wird, gestattet man ihr nur ein „Sünder“-Begräbnis – We consign your soul to hell singt der sinistre Kirchenchor. Jan, der durch eine Operation inzwischen wieder gehen kann, stielt daraufhin ihren Leichnam und übergibt ihn dem Meer.

Foto © Stefan Brion

Regisseur Tom Morris ist überzeugt, dass erst diese musikalische Untermalung die Bess-Rolle verständlich macht. „Kontrolliert sie ihr Leben oder nicht? Versteht sie oder versteht sie nicht, was für einen Preis sie für ihre Liebe zahlen muss? Ist sie Prophetin oder Unschuldige, Radikale oder Opfer? … Der Film klärt nichts auf und bietet nur eine zugleich dunkle als auch rätselhafte Provokation. Missy Mazzolis Oper ist eine persönliche und leidenschaftliche Antwort auf diese Provokation. Dort, wo der Film stumm bleibt, ist die Musik beredt … und damit hat sie die innere Musik der Bess geschrieben.“

Die Komponistin hat in dieser, ihrer ersten Oper bei der Orchesterbegleitung erfolgreich ungewöhnliche, neue Klang-Kombinationen kreiert, um Atmosphären zu schaffen oder die Gefühle ihrer Protagonisten zu unterstreichen. Dabei treten die Bläser häufig als Soloinstrumente hervor.

Von diesen Gegebenheiten geleitet, verwandelt Morris ein im Film wohl eher unverständliches, schockierendes Geschehen in eine zwar immer noch hochdramatische Tragödie, aber sie wird durch die von mystischer Liebe getragenen Opfer-Riten und durch Bess als eine Art von Märtyrerin verständlicher. Er verzichtet dabei nicht auf sehr unverhohlene Sex-Szenen. Die Personenregie ist sehr direkt, die Körpersprache sehr deutlich. Die Handlung ist auf die schottische Insel Skye verlegt, die durch eine bühnenwirksame, drehbare, Gruppe von dreizehn wuchtigen, aufsteigenden Quader-Säulen symbolisiert ist, die aber nicht nur Steilküste, sondern je nach Video-Beleuchtung auch Kirche, rostiges Schiffswrack oder Stahlstruktur der Ölplattform abgeben. Die Beleuchtung und die Farben der Beleuchtung tragen wesentlich zum atmosphärischen Wechsel auf der meist dunklen Bühne bei. Die Kostüme sind unauffällig und zeitgenössisch.

Foto © Stefan Brion

Musikalisch wird die Oper beherrscht von der gewaltigen, sehr ergreifenden Interpretation, stimmlich wie schauspielerisch, der Bess durch die Sopranistin Sydney Mancasola, die zwischen klarer reiner Mezzavoce in den Lamenti oder Gebeten und kraftvollen, leidenschaftlichen Ausbrüchen hin und her schwankt. His name ist Jan jubelt sie immer wieder lautstark in exaltierter Verliebtheit zu Beginn der Oper. Im zweiten und dritten Akt hingegen hält sie, fast schon an Geistesgestörtheit grenzend, regelmäßig, teils sprechend, teils singend, Zwiesprache mit sich selbst, vom Chor wie von einem Gewissensecho begleitet.

Ihr gegenüber ist Jarret Ott mit wohltimbriertem Bariton der Vertrauen einflößende, dann aber doch nicht immer durchsichtige Jan. Sehr glaubhaft stellen Wallis Giunta die wohlmeinende Schwägerin Dodo, Susan Bullock die engstirnige Mutter und Elgan Llyr Thomas den pflichtbewussten Arzt dar, die alle drei in einem dramatischen Quartett im dritten Akt, jeder auf seine Weise, versuchen, Bess zu schützen, aber dann das tragische Ende doch nicht abwenden können. What powers you possess, singt der Arzt von der erstaunlichen Frau sichtlich beeindruckt, und nach ihrem Tod: What goodness you possess. Von all dem wenig berührt und nur auf Vergnügen bedacht, ist Mathieu Dubroca als Jans lebenslustiger Kamerad Terry. Nicht zu vergessen der tief orgelnde Bass Andrew Nolens als der unerbittliche Gemeinde-Vorsteher.

Mathieu Romano leitet die Solisten sowie den Chor des Ensemble Aedes und das Orchestre de chambre de Paris mit Energie durch die dramatische Landschaft

Man mag zu dem Stoff der Oper stehen, wie man will, es lässt sich nicht leugnen, dass die Opernliteratur hier nicht nur durch ein eindrucksvolles, musikalisch wertvolles neues Werk, sondern auch durch eine gewaltige weibliche Hauptrolle bereichert worden ist. Und man muss wieder einmal der Opéra Comique dankbar sein, dieses außergewöhnliche Werk für drei Aufführungen in Paris auf die Bühne gebracht zu haben. Jedenfalls ist das Publikum ganz offensichtlich und einheitlich dieser Meinung …

Alexander Jordis-Lohausen