O-Ton

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Foto © Stefan Brion

Aktuelle Aufführungen

Molière und Lully in Originalfassung

LE BOURGEOIS GENTILHOMME
(Jean-Baptiste Lully)

Besuch am
16. März 2023
(Premiere)

 

Opéra Comique, Paris

Le Bourgeois Gentilhomme ist keine Oper, sondern eine comédie-ballet, also ein Theaterstück, dem Musik-, Gesangs- und Ballettstücke eingefügt sind. Diese Art der Unterhaltung entspringt 1661 der Zusammenarbeit des schon betagten Theatergenies Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, und des jungen, ehrgeizigen italienischen Musikers, Giovanni-Batista Lulli, der als Jean-Baptiste Lully in die Musikgeschichte eingegangen ist. Gemeinsam erfanden sie für die höfischen Vergnügungen Ludwigs XIV diese neue Theaterform. Denn der König war ein begeisterter Tänzer und wirkte zeitweise persönlich als Tänzer bei diesen Vergnügungen mit. Ein Jahrzehnt lang sind durch diese Zusammenarbeit vierzehn solcher Bühnenaufführungen entstanden. Es war dabei der Einfluss Molières ausschlaggebend. Er brachte Lully bei, wie sich gesungene und getanzte Musik in ein Theaterstück einfügen lässt, ohne unnatürlich zu wirken oder die Handlung zu stören. Lully hat in dieser Zusammenarbeit viel von Molière gelernt, was ihm später als Opernkomponist zugutegekommen ist.

Foto © Stefan Brion

Le Bourgeois Gentilhomme ist wohl die bekannteste dieser comédies-ballets und auch die letzte ihrer Art. Ihr liegt Molières gleichnamige Gesellschaftssatire zugrunde. Sie soll entstanden sein, weil der Botschafter des Osmanischen Reiches in Paris die Pracht Ludwig XIV nicht gebührend gewürdigt habe, und der König, in seiner Eitelkeit verletzt, ihn und seine Welt – durch Molières Stück – habe lächerlich machen wollen. Denn es erzählt die Geschichte des etwas naiven, reich gewordenen, gesellschaftlich ehrgeizigen Bürgers Jourdain, der mit allen Mitteln versucht, Edelmann zu werden, und daher auch die Heirat seiner Tochter Lucile mit dem nicht-adeligen Cléonte strikt ablehnt. Durch eine burleske Verstellung und Verkleidung wird Cléonte nun als der Sohn des „Groß-Türken“ im Hause Jourdain eingeführt. Und in einer grotesken Zeremonie wird der Hausherr zum „Mamamoutschi“ ernannt, glaubt sich damit hochadelig geworden und gibt seine Einwilligung zur Hochzeit.

Das Werk wird schon bei seiner Uraufführung 1670 vor Ludwig XIV im Schloss Chambord, in dem Molière den Jourdain und Lully den Mufti spielen, und vor allem bei der darauffolgenden öffentlichen Aufführung in Paris ein sofortiger Erfolg. Doch als Molière 1673 stirbt, übernimmt Lully nicht nur sein Theater, sondern auch die Académie Royal de Musique. Es ist der Beginn der französischen Oper. Aber das ist ein anderes Kapitel. Obwohl also die comédies-ballets nur eine Übergangsphase zur Oper sind, bleiben auch in den französischen Opern des späten 17. und des 18. Jahrhunderts Balletteinlagen weiterhin unabdingbar.

Richard Strauss hat sich 1919 von dieser comédie-ballet zu seiner Orchester-Suite Der Bürger als Edelmann inspirieren lassen.

Die Opéra Comique nimmt hier eine Inszenierung wieder auf, die 2020 wegen Corona hatte abgesagt werden müssen. Jérome Deschamps, ehemaliger Direktor der Opéra Comique, führt Regie. Er spielt gleichzeitig den Jourdain.

Er hat das Stück ganz im Sinne der Autoren als einen burlesken Schwank inszeniert. Félix Deschamps‘ Einheitskulisse ist ein einfacher Raum mit zwei Schaufenstern im ersten Stock. Vanessa Sanninos hat sich zwar für ihre Kostüme und Kopfbedeckungen an den historischen Vorlagen des 17. Jahrhunderts inspiriert, aber geht in ihrer Extravaganz weit darüber hinaus, vor allem bei den „türkischen“ Gewändern und Turbanen, was eine heiter-groteske Atmosphäre entstehen lässt. Natalie Van Parys‘ Choreografie der teils höfisch-klassischen, teils komischen Tanzeinlagen ist amüsant, aber nicht genial. Die Gestik und Mimik Jérome Dechamps‘ Personenregie ist sehr genau einstudiert und voller komischer Einfälle.

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Der Tanzlehrer und der Musiklehrer prügeln sich mit dem Fechtlehrer, wer der höchsten Kunst dient, bis sie alle drei über den Philosophielehrer herfallen. Beim Festschmaus im Hause Jourdain gibt es ein gebratenes Spanferkel, aus dessen Bauch der Hausherr, wie in Petronius‘ Gastmahl des Trimalchio, die erstaunlichsten Dinge hervorzaubert. Doch der Höhepunkt des Geschehens und der Partitur ist ohne Zweifel die „türkische Zeremonie“ mit Tanz, Gesang und viel Klamauk. Die Oper endet mit dem ballet des nations und einer Chaconne. Diese wird zu Lullys Firmenzeichen: Jede seiner späteren Opern endet mit einer Chaconne.

Unter den Schauspielern steht Jérome Deschamps im Mittelpunkt aller Manipulationen. Und er spielt jede psychologische und physiologische Gemütsregung des naiv-ehrgeizig-eigenwilligen Bürgers mit bewundernswerter schauspielerischer Finesse. Allgegenwärtig, auch da, wo sie nicht sein soll, ist, mit allen Wässerchen gewaschen, Pauline Tricot als raffiniertes Stubenmädchen. Ebenso ist Vincent Debost erst als Fechtlehrer und dann vor allem als der als Türke verkleidete Diener Covielle, der die Intrige leitet, ganz in seinem Komödianten-Element.

Lullys reizvolle Gesangseinlagen sind mit viel Lebendigkeit von Sandrine Buendia, Nile Senatore, Lisandro Nesis, und vor allem von Jérôme Varnier als Mufti gesungen. Noch sind sie meist liedhaft einfach, wie das bukolische Quartett der Schäferin mit dem Schäfer, dem Jäger und dem Winzer, doch hin und wieder kündigt sich schon der künftige Opernkomponist an.

Théotime Langlois de Swarte, der kurzfristig für Marc Minkowski hat einspringen müssen, dirigiert das Ensemble Les Musiciens du Louvre als erster Geiger mit Schwung und Umsicht.

Es war ein neues, man könnte fast sagen historisches Erlebnis, denn comédies-ballets werden als solche nur noch selten aufgeführt. Doch bei der Opéra Comique muss man halt immer mit erfreulichen Überraschungen rechnen.

Das Publikum ist erwartungsgemäß hingerissen über so viel Heiterkeit in solch schwierigen Zeiten.

Alexander Jordis-Lohausen