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Die Oper Armide ist die fünfte jener „Reformopern“ Glucks, in denen er durch einen neuen musikalischen Stil die überlebte Form der Opera seria à la Metastasio durch ein neues, lebendigeres Musikdrama zu ersetzen trachtet. Oder wie Hans Renner es ausdrückt, „er reinigte sie von modischen Zutaten und suchte sie in schlichter Sprache zu erneuern. Seine Gestalten sind Menschen, verstrickt in echte Konflikte, getrieben von echten Leidenschaften.“ Doch je erfolgreicher seine Opern sind, desto mehr schaffen sie ihm auch leidenschaftliche Widersacher. Mit der Oper Armide, die 1777 in Paris zur Aufführung gelangt, erlebt der eigenartige Zwist der Piccinnisten um den Opernkomponisten Nicola Piccinni, der die traditionelle italienische Oper vertritt, gegen die Gluckisten der Reformoper seinen Höhepunkt, bis er schließlich im Sande versickert, weil keine Partei wirklich als Sieger hervorgeht. Paradoxerweise wählt Gluck diesmal nicht ein neues, modernes Libretto, sondern greift auf das alte Textbuch nach Torquato Tasso zurück, das Philippe Quinault fast ein Jahrhundert zuvor für Jean Baptiste Lullys gleichnamige Oper geschrieben hatte. Es ist die mythische Geschichte der Zauberin Armide, die zur Zeit der Kreuzzüge den gefürchteten Kreuzritter Renaud bezwingen will, dann jedoch in Liebe zu ihm entbrennt. Trotzdem sie alle Dämonen der Hölle, darunter den Geist des Hasses, zu Hilfe ruft, ist sie unfähig, ihren Feind zu töten. Renaud hingegen, als seine Mitstreiter ihn finden und ihm den Spiegel vorhalten, gelingt es, sich von ihrem Liebes-Zauber zu befreien.
Foto © Stefan Brion
Regisseurin Lilo Baur hat es sich zur Aufgabe gemacht, den inneren Konflikt der Titelheldin, aber auch die besondere Machtfülle Armides hervorzuheben. Die Macht nicht nur einer Zauberin, sondern auch einer herrischen Kriegerin. Die Macht einer Frau, die das Leben erfahren, eine Vielzahl von Männern kennengelernt und unterworfen hat. Die auch die Ehe zurückgewiesen hat. Bis sie sich zum ersten Mal verliebt und diese Liebe sie ohnmächtig macht.
Und Baur hält Wort. Ihre Personenregie ist wirksam – ihre Darsteller sind lebendig und glaubhaft in all ihren Freuden und Leiden. Darüber hinaus beschert sie uns eine Zauber-Märchenatmosphäre, in der sich Moderne, Romantik und Orientalismus unbekümmert und erfolgreich mischen. Bruno de Lavenères Bühnenbilder beschränken sich weitgehend auf einen uralten, knorrigen Baum, der je nach Szene kahl oder belaubt ist, vor einer romantischen Abendlicht-Landschaft, die der Stimmung entsprechend von Laurent Castaingt mehr oder minder dramatisch oder heimelig beleuchtet ist. Die Kostüme sind teils orientalisch, teils ritterhaft nachempfunden, teils Fantasie-Verkleidungen für Natur-Geister oder Dämonen und farblich gut aufeinander und auf den Hintergrund abgestimmt. Mit einer guten Choreografie ist die Bühne in fast stetiger Bewegung, wobei die Tänzerin Mai Ishiwata und die Tänzer Fabien Almakiewicz und Nicolas Diguet eine wichtige Rolle spielen.
Foto © Stefan Brion
Der unumschränkte Stern des Abends ist zweifellos Véronique Gens, die souverän mit kräftigem, klangvollem Sopran als Armide großartig die Szene beherrscht, wie am Anfang des dritten Akts, hin und hergerissen zwischen ihrer Liebe und ihrer Bestimmung: Ah! si la liberté me doit être ravie. Und dann wieder ohnmächtig-wütend und hochdramatisch in der Schlussszene der Oper: Le perfide Renaud me fuit! Ihr gegenüber singt Ian Bostridge, edel und etwas steif, den Ritter Renaud mit sehr intensivem, sorgfältig artikuliertem Tenor. Er steht mit seiner lyrischen Arie Plus j’observe ces lieux et plus je les admire im Mittelpunkt des musikalisch wie auch szenisch sehr stimmungsvollen bukolischen zweiten Akts der Oper, umgeben von Dämonen in Gestalt von Schäfern und Nymphen. Edwin Crossley-Mercer erscheint würdevoll und mit Kommandostimme gleich zu Beginn des ersten Akts als Armides Onkel Hidroat, der König von Damaskus, und fordert sie auf, sich zu verheiraten Armide, que le sang qui m’unit avec vous, eine Idee, die sie jedoch strikt ablehnt. Sehr eindrucksvoll und hochdramatisch, wenn auch nicht sehr erschreckend der Auftritt im dritten Akt Je réponds à tes voeux des Mezzosoprans Anaïk Morel als der Geist des Hasses.
Bezaubernd anzusehen and anzuhören sind wie zwei Zwillingsschwestern als Armides junge Gefährtinnen Sidonie und Phénice, Florie Valiquette und Apolline Raï-Westphal. In den Rollen der Zaubergeister Mélisse und Lucinde versuchen sie, im vierten Akt Ubalde und den dänischen Ritter zu verführen, die aber durch ihr Zauberzepter dieser Umgarnung gerade noch entkommen. Sie werden hier mit jugendlichem Feuer von Philippe Estèphe und Enguerrand de Hys gesungen und gespielt.
Zu erwähnen sei noch der in verschiedenen Verkleidungen fast immer auf der Bühne anwesende, von Joël Suhubiette gut einstudierte Chor Les éléments.
Christophe Rousset ist als Dirigent für Solisten, Chor und sein Orchester Les Talens Lyriques mit Schwung und Umsicht allgegenwärtig, wenn auch diesmal nicht am Cembalo, sondern ausschließlich am Dirigentenpult, denn Gluck hat alle Rezitative durchkomponiert, um die dramatische Wirkung der Handlung durch das Orchester noch zu steigern.
Wie fast immer, hat auch diesmal die Opéra Comique nicht enttäuscht. Das Publikum bedenkt die Ausführenden mit begeistertem Beifall für diese zu Unrecht relativ selten gegebene Oper.
Alexander Jordis-Lohausen