O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder der ursprünglich geplanten Aufführung - Foto © Agathe Poupeney

Aktuelle Aufführungen

Intensiver als geplant

ARIODANTE
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
20. April 2023
(Premiere)

 

Opéra national de Paris, Palais Garnier

Im Jahre 1735 bringt Händel, nach zwei Bankrotten, in einem dritten und letzten Versuch, sein Opernunternehmen zu retten, im neuen Theater am Covent Garden gleich zwei Opern auf die Bühne: Ariodante und Alcina. Doch was wir heute im Zuge einer phänomenalen Renaissance der Barockoper als zwei große Meisterwerke schätzen, hat dem Komponisten damals keinen nachhaltigen Erfolg eingebracht. Die italienische Oper in England kommt außer Mode und zwei Jahre später scheitert Händels Unternehmen endgültig. Er erleidet einen Schlaganfall, und es ist fast ein Wunder, dass er mit über fünfzig Jahren durch eine Kur in Aachen noch einmal nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seine Schöpfungskraft zurückgewinnt, um seiner Karriere als Komponist eine neue Wendung zu geben.

Wohl durch die französische Oper inspiriert, schiebt Händel bei Ariodante, entgegen den englischen Gepflogenheiten, am Ende eines jeden Aktes ein kurzes Ballett ein. Dennoch bleibt es eine italienische Oper, wenn sie auch zum ersten Mal einige britische Züge trägt: Es ist Händels einzige Oper, die in Großbritannien spielt und er vertraut zum ersten Mal auch englischen Sängern wichtige Rollen an. Auch erinnern Elemente der Intrige sehr deutlich an Shakespeares Much Ado about Nothing.

In der Handlung, die aus einer Episode von Ariosts Orlando Furioso stammt, sind alle Personen aneinandergekettet: Lurciano liebt die Hofdame Dalida, sie wiederum liebt Polinesso, einen skrupellosen Edelmann, der aber Ginevra, die Tochter des Königs liebt, sie aber liebt Ariodante, einen Edelmann, und er liebt sie mit der Billigung des Königs. Erst durch die Intrige Polinessos, der Ginevra und vor allem den Thron für sich gewinnen will, gerät alles aus den Fugen. Der erste Akt ist eitel Wonne und Liebe, der zweite allgemeines Lamento und der dritte ein Begreifen und dann Bestrafen, Wiederfinden und Versöhnen.

Robert Carson, der nach Alcina mit Ariodante seine zweite Händel-Inszenierung an der Pariser Oper zeichnet, ist nach eigener Aussage hier besonders von Händels psychologischer Charakterisierungskunst beeindruckt und versucht, ihr in seiner Personenregie gerecht zu werden. Diese Personenregie darf das Publikum an diesem Abend auch bewundern, die übrige szenische Untermalung der Oper jedoch wird ihm vorenthalten. Denn die Gewerkschaften der Pariser Oper haben im allerletzten Moment beschlossen, die Premiere zu torpedieren, das Publikum wieder einmal zu Geiseln zu machen … und noch ein wenig mehr an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Doch die Direktion der Oper, die Sänger und die Musiker weigern sich, die Aufführung abzusagen und schlagen dem Publikum eine reduzierte, auf die Avant-Szene beschränkte, nur halb gespielte Oper vor. Generaldirektor Alexander Neef kündet es persönlich an.

So entsteht eine musikalisch hochwertige und schauspielerisch nicht minder eindrucksvolle Interpretation von Ariodante ohne Dekor und Kostüme, ohne Beleuchtungseffekte oder Tanzchoreografie. Die Musik und Carsons Personenregie stehen, wie unter der Lupe, im Vordergrund. Seine Personenregie ist äußerst realistisch, sehr expressionistisch. Wut ist Wut und kommt als solche ungeschminkt zum Ausdruck, ebenso Hass, Niedertracht, Angst, wie auch Freude, Jubel oder Liebe. Und tatsächlich wird immer wieder offensichtlich, wie sehr schon Händels Musik sehr subtil in den Gesangspartien, aber vor allem auch in der Orchester-Begleitung den Gemütszustand der jeweiligen Charaktere widerspiegelt.

Die Titelrolle, ursprünglich für einen Kastraten geschrieben, übernimmt hier Emily D’Angelo. Ihre Mezzosopran-Stimme ist gut kontrolliert und ihre Stimmführung einwandfrei. Mit minimaler Gestik und expressionistischer Mimik singt sie ganz in Nuance, sehr verhalten, sehr ausdrucksstark dieses vielleicht berühmteste, herzzerreißendste Lamento von Händel Scherza infida im zweiten Akt. Die Wehklage eines Menschen, der das verloren glaubt, was ihm am meisten bedeutet. Die fast gespenstisch anmutende Atmosphäre erreicht Händel durch eine Begleitung von gedämpften Streichern, Pizzicato der Bässe und Pianissimo geblasenen Fagotten. Das Publikum hält den Atem an … Im dritten Akt perlt die Sängerin dann wieder voller Feuer, Leidenschaft und Zuversicht die Koloraturen scheinbar mühelos in der halsbrecherischen Bravour-Arie Dopo notte herunter, als Ariodante sieht, dass alles Leid nur tückischer Schwindel war, und das Leben wieder lebenswert geworden ist.

Ihm oder ihr gegenüber singt mit weichem, leuchtendem Sopran Olga Kulchynska die unglückliche Königtochter Ginevra. Die beiden Frauenstimmen vereinen sich zu bezaubernd-freudigen Duetten von großer Virtuosität sowohl an Ende des ersten Akts wie am Schluss der Oper. Doch Ginevras Höhepunkt kommt mit ihrem Lamento Mi palpita il core. Né intendo perqué., in dem sie ihren dunklen Vorahnungen Ausdruck verleiht. Sie singt und spielt mit großer Intensität, die durch die Orchesterbegleitung eine gewaltige Dimension annimmt. Sehr ergreifend auch die kurz darauffolgende Szene, in der sie, vom König zu Unrecht verstoßen und ihren Geliebten tot glaubend, dem eigenen Tode ganz nahe, zurückbleibt Il mio cruel martoro … Morte dove sei tu.

Sehr würdevoll stellt sich der König im ersten Akt vor, von Matthew Brook souverän gesungen in der Arie Voli colla sua tromba mit zwei Solo-Hörnern im Orchester. Doch auch er entgeht nicht seinem tragischen Lamento im zweiten Akt Invida sorte avara. Im dritten Akt hat Händel auch den Widerstreit der Gefühle des Königs zwischen Tochterliebe und Gerechtigkeit einleuchtend herausgearbeitet. Er hat übrigens dasselbe Thema mehr als 20 Jahre später in der Abschiedsszene Iphis‘ von ihrem Vater in seinem letzten Oratorium Jephtha wiederverwendet.

Den teuflischen Schurken Polinesso verkörpert als Ausgeburt der Niedertracht mehr als glaubhaft Christophe Dumaux. Er spielt auf seiner Kontra-Tenorstimme wie auf einem Instrument, mal hell, mal dunkel, mal schnarrend gerissen, seine Melismen werden zu Hohngelächter, wie in der Arie Si l’inganno sortisce felice, nachdem seine Intrige gelungen ist, und dann wieder heuchlerisch ehrenhaft, als er vor dem König in Dover, giustizia, amor den Tugendhelden spielt und seine Stimme mit bewundernswerter Agilität von Himmel stürmenden Spitzentönen in höllische Tiefe abstürzen lässt.

Ariodantes Bruder Lurcanio, hier von Eric Ferring gesungen, ist sehr ehrenhaft, aber versteht die Dinge immer etwas zu spät. So kommt es auch zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem König, den er in einer wilden Koloratur-Arie Il tuo sangue auffordert, Ginevra zu bestrafen, weil durch ihre Untreue sein Bruder, wie er glaubt, umgekommen sei. Erst als sich alles aufklärt, ist er es, der Polinesso im Duell tötet.

Die naiv-leichtfertige Hofdame Dalinda, die sich von Polinesso überreden lässt, als Ginevra verkleidet zu ihm zu kommen, und zwar auf eine Weise, dass sie dabei von Ariodante gesehen wird, damit der glaubt, seine Geliebte sei ihm untreu, wird von Tamara Banjesevic interpretiert. In der wutgeladenen Arie Neghittose, or voi che fate? gibt sie mit großer Virtuosität zu erkennen, dass sie endlich ihren perfiden Liebhaber durchschaut hat. Etwas geniert und zögerlich akzeptiert sie nun die Werbung Lurcanios, den sie bisher verschmäht hatte, und alles löst sich am Ende der Oper in dem reizvollen Duett Dite spera in Wohlgefallen auf.

Enrico Casari ist Odoardo, der treue Sekretär und Vertraute des Königs.

Die Solisten, der Chor der Opéra national de Paris und The English Concert dirigiert Harry Bicket mit sehr viel Feingefühl.

Das Premieren-Publikum dankt durch einen besonders begeisterten Applaus allen Ausführenden für die zusätzlichen Anstrengungen bei dieser Aufführung.

Alexander Jordis-Lohausen