O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sébastien Mahé

Aktuelle Aufführungen

Unnütz aufgewärmt

ALCINA
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
25. November 2021
(Premiere am 7. Juni 1999)

 

Opéra national de Paris, Palais Garnier

Im Jahre 1516 verbreitet der italienische Dichter Ludovico Ariosto in seinem Gedicht Orlando furioso die Geschichte von der Zauberin Alcina, die Männer auf ihre magische Tropeninsel lockt, sie verführt, um sie dann in Steine oder Pflanzen zu verwandeln. Ein Jahrhundert später, im Jahre 1625, vertont Francesca Caccini den Stoff zum ersten Mal als Oper. Es folgen die Versionen verschiedener anderer Komponisten, die von dem Thema der Männer verderbenden Zauberin fasziniert sind. Und wieder ein Jahrhundert später, im Jahre 1735, lässt sich Händel, der sich damals in London mitten in einem erbitterten Existenzkampf befindet, mit Alcina zu einer seiner markantesten und auch erfolgreichsten Opern inspirieren. Er ist gerade von einer Reise nach Italien zurückgekehrt und hat sich vom Wandel im italienischen Opernstil beeindrucken lassen. Aber die unglaubliche Gefühlsintensität und psychologische Einfühlung der Charaktere, die in der Händelschen Vertonung zum Ausdruck kommen, gehen über diese Erneuerungen hinaus. Manche sehen darin die tragischen Züge der alternden Frau, die ihren jungen Liebhaber nicht mehr halten kann. Wie dem auch sei, sogar für die späte Barockzeit ist diese Oper ungewöhnlich, aber wegweisend für die weitere Entwicklung. Auf jeden Fall hat Händel hier eine seiner musikalisch reichhaltigsten Werke geschaffen und im neuen Opernhaus am Covent Garden alle szenischen Register gezogen, hat aber letztlich selbst mit diesem Erfolg das Ende seiner Londoner Operntätigkeit nicht verhindern können.

Robert Carsons Inszenierung von vor über 20 Jahren kommt dem Zaubermärchen nicht entgegen. Das Dekor ist strenge, klassizistische Innenarchitektur, die sich hin und wieder reizvoll auf einen üppigen, Licht durchfluteten Park öffnet. Sie würde recht gut zu Mozarts Figaro passen. Die Kostüme sind Straßenkleider aus unserer Zeit, die Beleuchtung mit wenigen Ausnahmen hell – nichts Geheimnisvolles, Zauber- oder Märchenhaftes. Alles tritt klar und offen zu Tage. Allein einige Szenen gegen Ende der Oper im halbdunklen Innenraum mit hoch aufgeworfenen Schatten vermitteln einen kleinen Eindruck des Unheimlichen. Der Chor, der die von Alcina verwandelten Ex-Liebhaber darstellen soll, aufersteht erst zu Schluss der Oper. Die übrige Zeit sieht man die Choristen lautlos und bewegungslos am Boden liegen, teils ganz, teils nur halb angezogen, einige aber auch splitterfasernackt. Alles das ist nicht sehr einleuchtend für eine Zauberinsel, aber es hätte sich zur Not vertreten lassen. Viel bedauerlicher dagegen ist Carsens Personenregie. Auch hier geht er seinen eigenen nicht immer glücklichen Weg, indem er dieser Opera seria, man kann fast sagen dieser Tragödie, operettenhafte Züge gibt. Wohl lässt er Alcina, Ruggiero, Bradamante und Melisso ihre teils tragischen vom Textbuch vorgeschriebenen Rollen ausleben. Alcinas Schwester hingegen, die schöne Fee Morgana, wird zu einem nymphomanen Stubenmädchen degradiert und Oronte, ihr Verlobter und General von Alcinas Armee, zu einem tölpelhaften Oberkellner, die ihre komisch sein sollenden, erotischen Schäkereien treiben. Sie sollen leicht und erheiternd sein und wären es in einem anderen Zusammenhang vielleicht auch gewesen, aber hier passen sie einfach nicht hinein. Einem Shakespeare wäre es vielleicht glaubhaft gelungen, neben die Tragödin Alcina einen Hanswurst zu stellen, aber einerseits ist das in diesem Textbuch nicht vorgesehen und andererseits ist Carsen nicht Shakespeare und so fällt sein Gesamtbild auseinander, und es bleiben uns von diesem an sich sehr homogenen musikalischen Meisterwerk nur einzelne ergreifende Momente. Leider wird zuweilen aber auch die musikalische Interpretation der Sänger und Sängerinnen durch diese Personenregie in Mitleidenschaft gezogen, denn Oper ist eben nicht nur Musik, sondern auch Schauspiel. Und wenn das Niveau des Schauspiels nicht auf der Höhe ist, leidet auch der Musikgenuss. Bei Carsen endet die Oper und der Zauber der Alcina nicht wie im Libretto, indem Ruggiero die Zauberurne zertrümmert, sondern hier erdolcht er Alcina melodramatisch auf offener Bühne.

Foto © Sébastien Mahé

Wenn es in dieser Aufführung dennoch Magie gibt, so ist das zweifellos Jeanine De Bique zu verdanken, denn sie entwickelt sich im Laufe des Abends schauspielerisch und stimmlich zu einer erstaunlichen Zauberin. Mit einer vollen, sinnlichen, etwas gutturalen Sopranstimme, deren dunkle Töne fast einem betörendem Mezzo nahekommen, ist sie noch ganz lyrisch im ersten Akt in Alla costanza mia così favella, sehr zart nur von Cello und Harfe begleitet, und steigert sich dann aber bis hin zum aufwühlenden ersten Höhepunkt Ah! Ruggiero crudel, tu no mi amasti, der Schlussarie des zweiten Akts. Die atemberaubenden Koloraturen sind von einem spannungsgeladenen Orchester begleitet. Hier wird die Zauberin zum ersten Mal menschlich, zum ersten Mal liebt sie wirklich und verliert darüber ihre magischen Kräfte. Noch will sie es nicht wahrhaben, aber in der letzten großen Arie im dritten Akt weiß sie es und klagt verzweifelt Mi restano le lagrime.

Alcinas Gegenspieler ist Gaëlle Arquez als der von ihr geliebte Ruggiero. Noch etwas hin und her gerissen zwischen ehelicher Pflicht und dem verführerischen Charme der Zauberinsel singt sie sehr schön und elegisch das sehr lyrische Verdi prati im zweiten Akt, ist dann aber im nächsten schon ganz siegesgewiss und triumphierend in Sta nell’Ircana pietrosa terra mit mitreißender Hörnerbegleitung.

Morgana ist eine Rolle, die zu Unrecht oft etwas in den Hintergrund gestellt wird. Doch hier wird sie geradezu geopfert. Sabine Devieilhe hat keine große, aber eine glockenklare Stimme, und ihre Spitzen-Koloraturen sind bewundernswert, wie uns noch von ihrer Antrittsrolle in Paris als Lakme 2014 in unvergesslicher Erinnerung bleibt. Aber sie ist keine Morgana, schon gar nicht in dieser Regie und so geht auch eine der beglückendsten da-capo-Arien, die Händel geschrieben hat, Tornami a vagheggiar, am Ende des ersten Akts in einer billigen Verführungsszene zu Grunde, zumal sich die Sängerin in den Improvisationen des da-capo zu zwar gekonnten, aber etwas flatterhaften Operetten-Melismen hinreißen lässt. Wer die begeisternde Interpretation dieser Arie 22 Jahre zuvor auf derselben Bühne durch Natalie Dessay noch in Erinnerung hat, kann diese nur als eine Enttäuschung empfinden.

Bradamante wird sehr rechtschaffen von Roxana Constatinescu interpretiert, wobei sich allerdings in den tieferen Lagen ihre Altstimme nicht immer gegenüber dem Orchester durchzusetzen vermag. Rupert Charlesworth ist mit wohltimbriertem Tenor als Oberkellner ein halbwegs überzeugender Oronto und Nicolas Courjal Ruggieros treuer Berater Melisso.

Die Solisten sowie Chor und das klangreiche Balthasar-Neumann-Ensemble dirigiert kraftvoll und lebendig Thomas Hengelbrock.

Welches Opernhaus hat heute keine Budget-Schwierigkeiten? Dennoch lohnt es sich nicht immer, alte Produktionen neu aufzuwärmen.

Trotz der erwähnten Mängel quittiert das Premierenpublikum die Aufführung mit begeistertem Applaus.

Alexander Jordis-Lohausen