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Komm in die Hölle, es wird lustig

ORPHEUS IN DER UNTERWELT
(Jacques Offenbach)

Besuch am
7. Dezember 2021
(Premiere)

 

Komische Oper Berlin

Eigentlich war die Premiere von Orpheus in der Unterwelt für den letzten Herbst geplant, nach dem großen Erfolg der Produktion bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2019.  Jetzt hat die Premiere endlich vor vollem Haus an der Komischen Oper stattgefunden. „2G+“ machts möglich.

Für seine erste abendfüllende Oper hatte Jacques Offenbach sich der griechischen Legende von Orpheus und Eurydike als Vorlage angenommen, sie aber in das Frankreich der Zweiten Republik und als Opera buffa und Persiflage der damaligen Gesellschaft verlagert – sogar Napoleon III. soll sich als Gott Jupiter erkannt und darüber gelacht haben. Zusammen mit den Librettisten Hector Crémieux und Lodovic Halévy hat Jacques Offenbach eine erste Version 1858 herausgebracht, die dann 1874 erheblich geändert und verlängert wurde. In der aktuellen Produktion werden die Dialoge auf Deutsch gesprochen – Dialogfassung Frank Harders-Wuthenow – und auf Französisch gesungen.

Barrie Kosky hält sich in seiner Art an die Geschichte: Die große Liebe zwischen Orfeo und Euridyke ist im banalen Alltag abgeflacht. Jeder amüsiert sich außerehelich auf seine Weise. Euridyke mit dem Honighändler Aristäos, der in Wirklichkeit Pluto ist, Herrscher der Unterwelt. Er lockt sie in sein Reich, sie folgt ihm mit Freuden – endlich ein Abenteuer! Orpheus freut sich ebenso, jetzt kann er sich mit einer Nymphe vergnügen. Aber halt, da kommt die in klösterliches Schwarz gekleidete Öffentliche Meinung und droht mit dem Ruin seines guten Rufes und verlangt, dass Orpheus Eurydike zurückverlangt, unter anderem beim Chef der Götter persönlich, Jupiter. Der, neugierig geworden, reist mit seiner Entourage von Göttern in die Unterwelt, wo Pluto seine Unschuld an der Entführung Euridykes beteuert. Da bleibt Jupiter nichts anderes übrig, als sich in eine Fliege zu verwandeln, um Eurydike zu finden. Er findet sie, verwandelt sich abermals in menschliche Gestalt und verspricht Eurydike ein Leben in einer schöneren Welt. Während Pluto ein großes Fest für die göttlichen Gäste aus dem Olymp veranstaltet, platzt die Öffentliche Meinung mit ihrem Schützling Orpheus rein, und er muss kleinlaut seine Gattin zurückfordern. Jupiter willigt ein, jedoch stellt er die Bedingung, Orpheus mag sich unter keinen Umständen auf dem Weg in die Oberwelt umdrehen, sonst verliert er Eurydike für immer. Auf dem Weg dorthin nimmt Eurydike ihr Schicksal selbst in die Hand, in dem sie dem brav schreitenden Orpheus seine Geige entreißt, er dreht sich um – und verliert Eurydike. Wie bei vielen Offenbachschen Heroinen hat sie das letzte Wort: Selbstbewusst entscheidet sie, dass sie Bacchantin werden will und sich Gott Bacchus und seinem lustigen Lebensstil anschließt.

Wer Regisseur Barrie Kosky kennt, der weiß, dass diese Operette ganz zu seinem Stil passt – auf Englisch würde man sagen over the top, alles ist übertrieben – aber es passt zur Musik und Geschichte. Rufus Didwiszus zaubert elegante Schlafzimmer und einen hinreißenden, überdimensionalen Höllendrachen mit funkelnden, roten Augen, der Fahrrad fährt. Dazu die äußerst einfallsreichen Kostüme von Victoria Behr, wobei einige glitzernde Genitalien und erotische Attribute weniger dem Ganzen nicht geschadet hätten. Die geniale Choreografie von Otto Pichler, die er mit dem phänomenalen Tanzensemble der Komischen Oper einstudiert hat, ist sicherlich einer der Höhepunkte der Produktion: Angefangen mit einer Bienennummer, die den Honighändler Aristäos umschwärmen, dann eine Bande rotbärtiger Teufel bis hin zum berühmten Can-Can auf dem Höllenfest, der ewig mit dem Namen Jacques Offenbach verbunden ist. Zurecht hat sich Kosky vor Pichler am Ende der Oper verneigt. Immerhin haben beide mehr als 20 Produktionen miteinander auf die Bühne gebracht.

Man merkt die Liebe zu diesem Genre bei Kosky. Zweifelsohne hat er mehr für die Renaissance der Operette in den letzten Jahren beigetragen als jeder andere. Bei dieser Produktion hat er – und Esteban Muñoz, der die Einstudierung in Berlin überwacht hat – sicherlich jeder Figur die dionysischen und frivolen Lustspiele beigebracht, die Travestienummern einstudiert – und doch ist dieser Daueraktionismus ermüdend, und es kalauert sich nach zwei Stunden aus.

Bei den Solisten muss an erster Stelle der John Styx von Schauspieler Max Hopp genannt werden. Im Original ist die Rolle des Styx eher eine kleinere Nebenrolle. Kosky baut sie aus als Hauptrolle, und Styx wird Erzähler, Diener, Conférencier, Geräuschemacher, Vertrauensperson. Hopp ist in einem auffällig glänzenden, violetten Satinfrack fast die gesamte Zeit auf der Bühne, übernimmt fast alle Dialoge, die wiederum von den anderen Darstellern gemimt werden, und liefert eine Vielzahl von deskriptiven Geräuschen: vom tik-tok der High Heels von Eurydike bis Schnarchen und Schmatzen in unterschiedlichen Stimmlagen. Halt was so alles an Geräuschen anfällt in einer „semipornographischen Offenbach-Operette“, wie Kosky es ausdrückt. Auch eine krakelige Ballade darf Hopp singen, als er über seine Zeit als Prinz von Arkadien sinniert.

Tenor Tansel Akzeybek ist ein gewollt blasser und eitler Orpheus, kein Wunder, dass er sich von der Öffentlichen Meinung herumkommandieren lässt, verkörpert von dem einzigartigen Contertenor und Bariton von Hagen Matzeit, der gut zu dieser androgynen Rolle passt. Die Eurydike von Sydney Mancasola hat einige Gelegenheiten, ihren klaren Sopran auszuspielen, und es ist verständlich, dass ihre Schönheit die Götter betört, jedoch fehlt ihr das letzte Quäntchen an Femme-fatale-Ausstrahlung, um eine wirklich überzeugende Eurydike abzuliefern. Götterchef Jupiter wird von Peter Bording zwar mit samtigem Bariton gesungen, aber ihm fehlt das Charisma, das man mit diesem Draufgänger assoziiert.  Dagegen ist die überwältigende Bühnenpräsenz vom Charaktertenor Wolfgang Ablinger-Sperrhacke perfekt als lüsterner Höllenherrscher. Mezzosopran Nadine Weissmann ist ein draufgängerischer, rothaariger Cupido, der die Lebens- und Liebeslust aller anfeuert. Die vielen kleinen Rollen des Göttergefolges sind mit Ensemble-Mitgliedern sehr gut besetzt.

Die oft schwindelerregenden Tempi von Offenbach – und Koskys Umsetzung – werden vom Dirigenten Adrien Perruchon und dem Orchester der Komischen Oper stramm durchgehalten. Ebenso auch der Chor der Komischen Oper in der Einstudierung von Jean-Christophe Charron hält mit und amüsiert sich sichtlich bei dem allseitigen Chaos.

Frenetischer Applaus, erst recht nach der Premierenansprache und Danksagung von Regisseur und Hausherr Barrie Kosky auf der Bühne.

Orpheus in der Unterwelt entstand als Koproduktion der Komischen Oper Berlin mit den Salzburger Festspielen und der Deutschen Oper am Rhein, wo die Produktion ab kommendem Februar zu erleben sein wird.

Zenaida des Aubris