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Foto © Ludwig Olah

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Kein Stück der Stunde

DER VETTER AUS DINGSDA
(Eduard Künneke)

Gesehen am
18. April 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Staatstheater Nürnberg

Die Operette lebt vom Zauber der Illusion, von Traumbildern und von der Sehnsucht nach einer heilen Welt. Aber was passiert, wenn sich die Träumerei als trügerisch erweist? Am Staatstheater Nürnberg lässt Regisseurin Vera Nemirova in der Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke illusionäre Träume von der großen Liebe mit der Realität der heutigen Zeit aufeinander krachen. Das funktioniert nur leider nicht so richtig. Eduard Künneke komponierte den Vetter aus Dingsda für das Berliner Theater am Nollendorfplatz. Der für die Goldenen Zwanziger typische Vergnügungstempel hob das Erfolgsstück vor exakt einhundert Jahren im April 1921 aus der Taufe. Zu seinem Erfolg trug Künnekes Geschick bei, Gesangsnummern mit den damals neu aufkommenden Modetänzen Foxtrott, Paso doble, Tango oder Valse Boston zu kombinieren. Arien wie Strahlender Mond oder Ich bin nur ein armer Wandergesell, von Rudolf Schock unerreichbar intoniert, begründeten Künnekes Ruhm als Großmeister der deutschen Operette, insbesondere der Berliner Operette. Die Melodien waren seinerzeit Gassenhauer, und bis heute hat diese witzige Operette nichts von ihrem Charme verloren. Doch kann man eine Revueoperette mit frivolem Charme der 20-er einfach in die Jetzt-Zeit transferieren? Natürlich kann man das, wenn man darauf achtet, dass das Werk dabei nicht verfälscht wird. Aber genau das hat Nemirova mit ihrem Regieansatz gemacht. Sie sagt über ihre Inszenierung, dass die Menschen Bedarf haben nach einem Gegenentwurf, nach Utopien, nach Sehnsuchtsorten. „Im Vetter aus Dingsda gibt es dieses Batavia, das so ein utopischer Ort ist. Das fängt uns in unserer gegenwärtigen Situation unheimlich gut auf. Man könnte fast meinen, es ist das Stück der Stunde!“

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Nun, zunächst handelt dieses Stück von der romantisch verklärten Liebe einer jungen Frau zu ihrem Vetter, den sie seit Kindertagen nicht mehr gesehen hat. Und es ist ein Stück über die Emanzipation von Familienzwängen und Konventionen. Wer kennt sie nicht, diese lästigen Verwandten, die man am liebsten nur von hinten sieht? Der jungen und schönen Julia de Weert geht es da nicht anders: Ausgerechnet ihr Vormund, der gefräßige Josef Kuhbrot, genannt Onkel Josse, und seine Frau Wilhelmine, genannt Wimpel, wollen ihr ihren Neffen August Kuhbrot als Ehemann schmackhaft zu machen – und um sicherzugehen, dass ihr Vermögen damit in der Familie bleibt. Aber Julia liebt nur einen: ihren Vetter Roderich. Der ist allerdings vor sieben Jahren nach „Dingsda“, einer Stadt im Indischen Ozean, aufgebrochen und hat seither nichts mehr von sich hören lassen. Just da tauchen gleich zwei Fremde auf, die behaupten, Roderich zu sein – wer ist nun der Richtige? Wer ist Traumbild, wer ist Realität? Und kann Liebe auf eine Illusion aufgebaut überdauern? Natürlich findet, wie in einem guten Märchen, alles am Ende zusammen, und nach vielen Wirrungen und Irrungen gibt es am Ende ein Happy End, das Nemirova aber neu interpretiert.

Regisseurin Nemirova und die Bühnen- und Kostümbildnerin Pavlina Eusterhus haben dafür einen radikalen Schnitt gemacht und das Werk in die heutige Zeit verpflanzt. Für sie ist Julia abhängig von den elektronischen Medien, weil sie nicht kommunizieren kann und in einen virtuellen Partner verliebt ist, der seit langem weg ist. Tatsächlich ist ein Smartphone ihr ständiger Begleiter, mal ist sie flippig hysterisch, dann meditiert sie wieder im Schneidersitz. Auch ihre Freundin Hannchen, die hier als eine Art Aushilfsköchin dargestellt wird, daddelt ständig auf ihrem Laptop. Julia hat sich in einem Gewächshaus eingeigelt, ihr Rückzugsort für die geistige, körperliche und soziale Isolation. Und der „erste Fremde“, August Kuhbrot, will sie aus dieser Isolation herausholen, um ihr zu zeigen, was es heißt, wirklich zu lieben, zu leben Freiheit und Nähe zu erfahren. So weit, so gut. Auch wenn die Dialoge teils drastisch gekürzt sind und zum Teil mit Vulgärausdrücken bestückt sind, das macht ein Stück noch nicht modern. Auch der Einsatz von Videoeinblendungen macht die Inszenierung nicht besser. Denn die gesungenen Texte sind nun mal aus einer anderen Zeit und mit dieser radikalen Neuinterpretation nicht kompatibel. Dass Julia dann minutenlang aus Shakespeares Romeo und Julia zitiert, geschenkt. Das wirkt alles zusammengestoppelt, und die feine Psychologie der Figuren untereinander geht dabei einfach verloren. Besonders grausam wird es dann im zweiten Akt, wenn das imaginäre Batavia besungen wird, und die Protagonisten in Liegestühlen einem Karibik-Feeling nachgehen, während Egon von Wildenhagen, der sich ja vergeblich um Julia bemüht hat, den Animateur wie in einem Robinson-Club spielt und dabei affenartige Urlaute von sich gibt. Wenn man das bösartig interpretieren möchte, dann könnte man es auch als rassistischen Ausfall bezeichnen, auch wenn das wohl so nicht gemeint war. Aber diese Szene ist symptomatisch für eine unbeholfene und nicht stringente Inszenierung. Dass am Schluss der „Zweite Fremde“, der echte Roderich, mit Rockerlederkluft im US-Stil mit amerikanischem Akzent auftritt, ist genauso unpassend und unglaubwürdig wie der Rest der Handlung. Wenn Nemirova dann auch noch sagt, dass es in dieser Operette zugeht wie in einer großen Oper und es für sie fast wirkt wie eine „Persiflage auf Lohengrin“, dann wird man mit dieser Aussage weder dem Komponisten noch dem Werk gerecht. Apropos Wagner, es gibt in dieser Inszenierung tatsächlich ein Zitat aus einer Wagneroper, aber aus dem Tristan, natürlich aus dem Zusammenhang gerissen.

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Auch der Schluss ist merkwürdig. Die letzten Worte sind „Wir gehen nach Batavia“, für Nemirova heißt das in die äußere und innere Emigration. Dazu sieht man das leere Nürnberger Opernhaus, aber Applaus und Jubel für die Protagonisten wird eingeblendet. Natürlich wünschen sich alle das Publikum, das am Ende begeistert jubelt und applaudiert, oder auch seinem Missmut freien Lauf lässt, das soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben. Aber dieses künstliche Szenar wirkt dann doch zu aufgesetzt. Und die Moral von der Geschichte, jage keinem Traumbild nach, sondern liebe den Menschen so, wie er ist.  Eine Weisheit, die im Zeitalter von Dating-Apps mehr denn je aktuell ist.

Musikalisch ist leider auch nicht immer der pure Genuss, was die Staatsphilharmonie Nürnberg unter der Leitung von Lutz de Veer präsentiert, in einer von ihm teils neu konzipierten Orchesterfassung, die schon manchmal etwas schräg klingt. Hinzu kommen technische Probleme bei der Klangabmischung, so dass das Orchester teilweise viel zu laut ist und wie eine Kurkapelle klingt, die die Sänger überdeckelt und Künnekes teils filigraner Musik nicht gerecht wird.

Dafür ist sängerisch aber ganz passabel, was die Oper Nürnberg in diesem Stream zu bieten hat. Andromahi Raptis gibt mit klarem, hellem Sopran die romantisch verklärte Julia, mit dem anrührend vorgetragenem Auftrittslied Strahlender Mond, der am Himmelszelt thront weiß sie zu überzeugen. Das gilt auch für Martin Platz, der den ersten Fremden mit viel Charme und Ausstrahlung gibt. Sein Ich bin nur ein armer Wandergesell singt er mit schönem tenoralem Schmelz. Paula Meisinger, Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg, lässt als Hannchen mit ihrem leichten Sopran und frechem Spiel aufhorchen. Taras Konoshchenko gibt den schwergewichtigen Josef Kuhbrot fast schon so liebevoll und mit Schöngesang, dass er als Autoritätsperson nicht wirklich überzeugt. Franziska Kern interpretiert die Wilhelmine mit witzig komödiantischem Spiel. Hans Kittelmann überzieht in der Rolle des Egon von Wildenhagen in seinem Spiel, während John Pumphrey in der Rolle des zweiten Fremden keine großen Akzente setzen kann. Am Ende bleibt festzustellen, dass der Oper Nürnberg mit dieser Inszenierung zum 100. Jahrestag der Uraufführung des Vetter aus Dingsda kein großer Wurf gelungen ist; es ist leider kein Stück der Stunde, wie Vera Nemirova es gerne gehabt hätte.

Andreas H. Hölscher