O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Mallwitz rockt Beethoven

SINFONIEN NR. 6 F-DUR OP. 68 PASTORALE & NR. 7 A-DUR OP. 92
(Ludwig van Beethoven)

Besuch am
25. Juni 2021
(Premiere)

 

Staatstheater Nürnberg in der Meistersingerhalle Nürnberg

Es mutet schon fast wie ein historischer Augenblick an, wenn nach über einem Jahr Zwangspause ein großes Philharmonisches Orchester sich in Originalbesetzung und ohne Trennung der einzelnen Orchestergruppen wieder auf der Bühne versammelt, um dann mit Verspätung eine Hommage an Ludwig van Beethoven zu spielen, was im Jubiläumsjahr 2020 anlässlich seines 250. Geburtstag aufgrund der Pandemie nicht möglich war. In der Nürnberger Meistersingerhalle stehen nun Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie in F-Dur op. 68, die Pastorale, und seine 7. Sinfonie in A-Dur op. 92 auf dem Programm, präsentiert von der Staatsphilharmonie Nürnberg unter der Leitung von Joana Mallwitz. Die Zuschauerzahl ist aufgrund des Hygienekonzeptes immer noch deutlich reduziert, und alle Anwesenden müssen während des Konzertes eine FFP-2 Maske tragen, aber es sind einige Hundert Zuschauer zugelassen, so dass sich auch schnell das richtige Konzertgefühl einstellen kann.

Die Pastorale, Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie, ist eine Zeitenwende in der Musikgeschichte, nicht nur durch ihren komplexen Aufbau, sondern vor allem, weil Beethoven hier versucht, Stimmung in Musik zu fassen. Diese Sinfonie darf man durchaus als Liebeserklärung an die Natur verstanden wissen. Beethoven war ein großer Naturliebhaber und verbrachte die Sommermonate gerne in der ländlichen Umgebung Wiens. Dass Beethoven dort in der Natur entsprechende lange Spaziergänge unternahm, das ist bekannt und überliefert. Ob aber der Musikus seine Sechste wirklich am Ufer des Schreiberbach zwischen den Wiener Vororten Nußdorf und Grinzing komponierte, während er dort das bunte Treiben der Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke beobachtete, ist doch eher im Bereich der Legendenbildung anzusiedeln. Zwar vertonte Beethoven die Rufe dieser Vögel im zweiten Satz der Sinfonie, dennoch mag das kein klarer Beweis für die Echtheit dieser Überlieferung sein. Obwohl Beethoven die inhaltliche Aufladung von Kompositionen im Sinne heutiger Programmmusik stets kritisierte, überschrieb er die ersten Skizzen der Pastorale mit „Sinfonia caracteristica“ und später mit „Sinfonia pastorella“, das fertige Werk schließlich mit „Pastoral-Sinfonie oder Erinnerungen an das Landleben“.

Ein Stadtbewohner fährt aufs Land und entdeckt dort die Natur als Idylle und Gewalt. Ruhe und Innerlichkeit finden ebenso Eingang in diese Musik wie brutale Naturkräfte. Im Finale versöhnt Beethoven den Menschen mit der Natur und stellt eine Weltharmonie her. Entstanden ist die Pastorale in den Jahren 1807 bis 1808, nahezu zeitgleich mit seiner 5. Sinfonie. Die Pastorale ist im Übrigen die einzige Sinfonie Beethovens, die aus fünf statt vier Sätzen besteht.  In diesen fünf Sätzen werden von Beethoven verschiedene Eindrücke einer ländlichen Umgebung musikalisch dargestellt. Alle fünf Sätze fügen sich im Gesamtzusammenhang zu einem einheitlichen Bild, von dem Beethoven selbst behauptete, es habe „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“.

Den ersten Satz überschrieb er mit Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande, der zweite Satz stellt eine Szene am Bach dar. Die direkt ineinander übergehenden Sätze drei, vier und fünf sind mit den Zusätzen Lustiges Zusammensein der Landleute, Gewitter und Sturm sowie Hirtengesang – Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm beschrieben. Diese Naturverbundenheit, die fast zu einem musikalischen Idyll stilisiert ist, ist vor allem im zweiten Satz omnipräsent, wenn in der Coda des zweiten Satzes Vogellaute durch die Instrumente imitiert werden und man die Geräusche eines Wanderers und das Murmeln eines Bachs zu vernehmen meint. Durch den geschickten Einsatz von Kontrabässen, Celli, Piccoloflöte und Violinen im vierten Satz ist das aufziehende Gewitter förmlich spürbar.  Beethoven legte mit seiner Sechsten wohl eher unbewusst den Grundstein für eine neue musikalische Formsprache, die in der Programmmusik des 19. Jahrhunderts mündete und schließlich den Ausgangspunkt der Symphonischen Dichtung darstellte und vielleicht auch Richard Strauss bei der Komposition seiner Alpensin­fonie inspiriert haben mag. Ein weiteres Merkmal dieser Sinfonie sind nicht nur die fünf Sätze, sondern auch, dass der Schlusssatz nicht wie gewohnt in einem triumphalen Finale endet, sondern in „heiterer Ruhe“ still verklingt.

Der erste Satz beginnt mit einem viertaktigen Motiv, aus dem sich die folgende Thematik entwickelt. Joana Mallwitz beginnt mit einem fein differenzierten Tempo und dezidierten Phrasierungen der einzelnen Orchestergruppen. Besonders beeindruckend ist der Beginn des zweiten Satzes, der sich über einen einzelnen Ton b entwickelt, den zunächst alle Stimmen aufnehmen, dann aber in verschiedene Schichten zerfallen. Mallwitz schlägt ein sehr mediatives Tempo an, und die große Nürnberger Staatsphilharmonie zaubert an diese Stelle einen fast schon kammermusikalischen Klang. Ein besonderes Augenmerk richtet Mallwitz auf die Imitation der Vogelstimmen im zweiten Satz. Nachtigall, Wachtel und Kuckuck sind jeweils ein Soloinstrument zugeordnet: Flöte, Oboe und Klarinette. Dieses „Zwiegespräch der Vögel“ wird besonders betont herausgearbeitet und verleiht der Sinfonie auch ihren pastoralen Charakter.

Joana Mallwitz – Foto © Simon Pauly

Der dritte Satz, das Allegro Lustiges Zusammensein der Landleute ist charakterisiert durch die heitere und volkstümliche Stimmung, was insbesondere durch den Klang der Hörner verdeutlicht wird. Der Hörnerschall lässt den Jägerchor in Carl Maria von Webers Freischütz schon erahnen. Mallwitz zieht nun das Tempo etwas an, ihr Dirigat ist nun dynamischer und kräftiger mit dem nahtlosen Übergang in das Allegro des vierten Satzes Gewitter und Sturm. Das Donnergrollen und die Blitze des Gewittersturmes werden eindrucksvoll durch die einzelnen Orchestergruppen herausgearbeitet, das Thema endet dann in einem musikalischen Regenbogen. Auch hier darf man Assoziationen nachgeben, wenn man im gewaltigen Forte des Orchesters schon einige Takte von Wagners Fliegendem Holländer zu erkennen versucht. Auch der Übergang zum fünften Satz Allegretto Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm erfolgt ohne Pause. Mallwitz zügelt nun das Orchester und justiert es wieder in den pastoralen Klang des dritten Satzes. Der Hirtengesang wird akzentuiert dargestellt, der in die heitere Ruhe des Finales mündet.

In der kurzen Pause zwischen den beiden Sinfonien ergreift Joana Mallwitz das Mikrofon und lässt es sich nicht nehmen, die Zuschauer nach einer so langen Zeit der Entbehrung persönlich zu begrüßen und für ihr zahlreiches Erscheinen zu danken. Sie spricht über die Erfahrungen mit den digitalen Expeditionskonzerten mit Beethovens 6. und 7. Sinfonie im vergangenen Jahr, und die Beweggründe, genau diese beiden Sinfonien jetzt endlich mit der großen Besetzung der Staatsphilharmonie Nürnberg vor Publikum zu spielen, auch als eine verspätete Hommage an das Beethoven-Jahr 2020. Für Mallwitz ist Beethoven ein „Meister der komplexen Strukturen und der motivischen Veränderungen“. Und dieses Konzert sei nach dem vielen Arbeiten in Orchesterkleinstgruppen nun wie eine „Party“, die sie gemeinsam mit dem Publikum feiern wolle.

Seine 7. Sinfonie in A-Dur op. 92 schrieb Ludwig van Beethoven vor allem 1811, vollendete sie schließlich im Frühjahr 1812. Die Uraufführung erfolgte am 8. Dezember 1813 in Wien, dem Jahr der Völkerschlacht von Leipzig und dem Geburtsjahr von Richard Wagner, zusammen mit Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria im großen Redouten-Saal der Wiener Universität als Benefizkonzert zugunsten der antinapoleonischen Kämpfer unter Beethovens Dirigat. Während die ersten sechs Symphonien kontinuierlich Jahr für Jahr entstanden, komponierte Beethoven die Siebte nach einer Pause von fünf Jahren, besser gesagt nach einer Zäsur, die er vor allem für die Komposition von Klavier- und Kammermusik nutzte. Und genau diese biografisch-künstlerische Zäsur ist gleichzeitig ein Fingerzeig auf das Werk. Sie verweist darauf, dass die Sinfonie Nr. 7 anders ist als ihre Vorgängerinnen. In den Symphonien Nr. 3, 5 und 6 hatte er ein Sujet oder zumindest eine Grundidee gewählt, und nun kam mit der Siebten etwas völlig Neues: Mit dieser A-Dur-Sinfonie schuf Beethoven einen neuen Typ sinfonischer Komposition, etwas ganz Besonderes. Im Unterschied zu all ihren Vorgängerinnen liegt ihre Besonderheit darin, wie Beethoven hier rhythmisch und harmonisch gestaltet. Beethoven selbst sagte über seine Siebte, sie sei eines seiner besten Werke.

Der erste Satz beginnt majestätisch und kraftvoll, insbesondere die Bläser dominieren hier mit sauberem Klang. Der Rhythmus des Satzes veranlasste Richard Wagner, die Sinfonie als eine Apotheose des Tanzes zu bezeichnen. Wie der erste, so wird auch der zweite Satz vor allem vom Rhythmus bestimmt, doch er erscheint rätselhaft, geheimnisvoll. Das Thema, so sagt Mallwitz, „erinnere an eine feierliche Prozession oder einen stilisierten Trauermarsch, schwermütig, wehmütig.“ Dieser Satz habe auch einen großen Einfluss auf Franz Schubert gehabt, vor allem auf seine Liedkompositionen, die häufig das Thema Tod zum Inhalt haben. Mallwitz und die Staatsphilharmonie Nürnberg gehen diesen Satz düster und melancholisch an, und man spürt das große Gefühl, das von dieser Melodie ausgeht. Der dritte Satz in F-Dur beginnt mit dem abgewandelten Thema der Einleitung und bildet mit seinem lebhaften Charakter einen Kontrast zum Allegretto. Das Trio steht dagegen in A-Dur, dreimal erfolgt der Wechsel. Der Satz endet abrupt mit einem einzigen Paukenschlag, was von Robert Schumann mit den Worten „Man sieht den Komponisten ordentlich die Feder wegwerfen“ beschrieben wurde. Und Mallwitz forciert das Tempo, das Dirigat wird immer dynamischer, es ist die Vorbereitung auf das explosive Finale des vierten Satzes. Der Schlusssatz wird von Mallwitz als extrovertiert beschrieben, es sei „Energie pur, ein selbsthypnotischer Taumel.“ Die Pauken geben den Rhythmus vor und peitschen das Orchester auf. Insgesamt sei dieser vierte Satz „Urgewalt, obsessiv.“ Clara Schumanns Vater Friedrich Wieck mutmaßte, „daß diese Sinfonie nur im unglücklichen – im trunkenen Zustand komponiert sein könne, namlich der erste und der letzte Satz“. Und Carl Maria von Weber soll gesagt haben „Beethoven sei reif für das Narrenhaus“. All diese Beschreibungen sind im Moment nebensächlich, denn auf der Bühne rocken Joana Mallwitz und ihre Philharmoniker ein unglaubliches Finale, mit wuchtiger Dynamik und einem furiosen Schluss, der das Publikum förmlich von den Sitzen reißt.

Gibt es schon nach der 6. Sinfonie großen Applaus für Joana Mallwitz und die Staatsphilharmonie Nürnberg, so steigert sich dieser am Schluss in großen Jubel und stehende Ovationen. Die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt einen modernen und furiosen Beethoven. Der warme Klang der Streicher, die harmonischen Holzbläser und die starken und sauber intonierenden Blechbläser machen aus diesem Sinfoniekonzert ein besonderes Erlebnis, das durch die Spielfreude der Musiker noch einmal verstärkt wird. Im Mittelpunkt der Ovationen steht Joana Mallwitz. Mit ihrem zupackenden und dynamischen Dirigierstil, einem leicht tänzelnden Gestus, sowohl in der Schulter als auch im Handgelenk, frei von Show und Effekthascherei, und einem Schlag, der mehr wie eine Umarmung des Orchesters denn preußische Taktgeberei ist, weiß Joana Mallwitz ihr Orchester harmonisch zu leiten, und das immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Mit dieser Interpretation Beethovenscher Sinfonien ist Mallwitz schon längst in der ersten Garde der Dirigenten angekommen. Vielleicht sollte man sich in Dresden mal auf den Weg nach Nürnberg machen. Da wird ja bekanntermaßen 2024 die Stelle von Christian Thielemann frei, der selbst 1988 als GMD nach Nürnberg kam.

Nun endlich wieder Vorstellungen vor und mit Publikum. Und es ist genauso, wie es auch vor der Pandemie war. Zu Beginn des zweiten Satzes der 7. Sinfonie, das Orchester spielt fast im Pianissimo, da muss ein älterer Herr genussvoll sein Bonbon auswickeln, als ob er allen Zuschauern sagen möchte, seht her, ich bin auch dabei. Nach so einer langen Zeit der Entbehrung wäre etwas mehr Selbstdisziplin angebracht gewesen. Aber einige lernen anscheinend nicht dazu.

Andreas H. Hölscher