O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Szenen einer Ehe

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
30. April 2023
(Premiere am 15. April 2023)

 

Staatstheater Nürnberg

Mozarts Hochzeit des Figaro ist eigentlich eine Komödie, die man im Kontext zur Zeit der Entstehungsgeschichte und der gesellschaftlichen Normen sehen muss. Im Vordergrund steht das komödiantische Wechselspiel von Verliebtheit und Enttäuschung, von Begierde und Verzweiflung, von Lust und Frust, von Eifersucht und Intrige. Es ist im übertragenen Sinne ein Garten der Gefühle, ein Labyrinth von Irrungen und Wirrungen, aus dem es einen Ausweg gibt. Die Menschlichkeit, die am Schluss siegt und alles zum Guten führt. Doch bis dahin ist es ein weiter und schwieriger Weg mit allerlei komödiantischen Raffinessen. Graf Almaviva hat sich von seiner Gräfin abgewendet. Sein Objekt der Begierde ist Susanna, die Kammerzofe der Gräfin. Sie wird zum Ziel seiner lüsternen Attacken, während er gleichzeitig seine eigene Frau in rasender Eifersucht in flagranti zu ertappen hofft. Die emotional hoch aufgeladene Situation droht komplett zu entgleiten, da der liebestaumelnde, pubertierende Page Cherubino immer im falschen Moment allen Frauen seine Avancen macht und den Grafen dabei schier zur Verzweiflung treibt. Und Figaro, der vor Kraft strotzende Einfaltspinsel, merkt erst sehr spät, welche Spielchen um ihn herumgetrieben werden. Doch am Ende eines tollen Tages lösen sich die Irrungen und Wirrungen, die die Beziehungsgeflechte auf der Gefühlsebene verbinden, in harmonisches Wohlgefallen auf.

Staatstheaterintendant und Regisseur Jens-Daniel Herzog verlegt diese ewig junge Komödie in die heutige Zeit und macht daraus eine etwas beklemmend wirkende Alltagstragödie, in der der Humor phasenweise etwas zu kurz kommt, aber mit einigen Slapstick-Einlagen dafür sorgt, dass das Publikum trotzdem was zu lachen hat. Für Herzog ist der Graf ein erfolgreicher Geschäftsmann mit viel Geld, einer klugen und attraktiven Frau und einem ganzen Stab an Bediensteten, die den Alltag erleichtern sollen. Doch Almaviva und seine Frau Rosina haben sich auseinandergelebt, in der Ehe läuft es nicht mehr, selbst die Kommunikation über das Mobiltelefon zwischen den Wänden funktioniert nicht. Es herrscht Funkstille. Denn Almaviva hat nur noch Augen für Susanna, die Verlobte seines Assistenten Figaro. Sie ins Bett zu bekommen, dafür setzt er alles aufs Spiel und ruiniert dabei fast alles.

Auch die etwa achtjährige Tochter des Paares, eine Hinzudichtung von Herzog, ist zwischen den beiden Elternteilen hin- und hergerissen und versucht alles, um ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Dafür beschmiert sie schon mal voller Frust und Wut das Familienporträt, das Almaviva zu Beginn so sehnsüchtig betrachtet und in Erinnerungen an vergangene glückliche Zeiten versinkt. Oder sie schmeißt die Bücher ihres Vaters zu Boden und schüttet den Whisky darauf aus der Flasche, zu der ihre Mutter immer öfter greift. Das Kind bleibt allein mit seinen Gefühlen und weiß sich keinen anderen Rat, als schließlich aus dem Fenster zu springen, so wie es das beim verkleideten Cherubino gesehen hat, der vor dem Grafen flüchten musste. Ob der gebrochene Arm des Mädchens die Eltern zur Besinnung bringt? Es sind Szenen einer Ehe, wie man sie auch heute millionenfach erlebt, die banale Alltagstragödie. Erst kurz vor dem finalen Abgrund, als alles schon zu spät erscheint, kommt Almaviva zur Besinnung, und die Tragödie endet dann doch fast versöhnlich.

Almaviva ist es gewohnt, Anweisungen und Befehle zu erteilen, ohne Rücksicht auf das Befinden seiner Familie oder Mitarbeiter. Die Familie lebt in einer großzügig ausgestatteten Villa, deren Räume sich nebeneinander befinden und deren Wände je nach Szene auf- oder zugestellt werden können. Das Bühnenbild und die passenden Kostüme hat Mathis Neidhardt geschaffen. Durch die Verschiebemöglichkeit der Wände gibt es faszinierende Paralleleinsichten für das Publikum, was das Verfolgen des Verwirrspiels durchaus erleichtert. Es zeigt aber auch die Enge des Zimmers von Susanna und Figaro, das genau zwischen den Räumlichkeiten von Almaviva und seiner Frau gelegen ist, so dass je nach Befinden beide auf das junge Paar zurückgreifen können, eine Doppelbödigkeit im wörtlichen Sinne.

Zur Ouvertüre ist der Vorhang schon geöffnet, die Bühne ist abgedunkelt, die Räume sind noch geschlossen, und man sieht eine junge Frau, Typ Punkerin und oder Junkie, die sich gelangweilt eine Zigarette ansteckt. Später wird das Publikum wissen, das ist Barbarina, die Tochter des Gärtners Antonio. Susanna, in einem rotgetupften Kleid und Jeansjacke gewandet, erscheint und steckt sich ebenfalls eine Zigarette an. Das ist leider so eine Unart, die immer mehr bei Inszenierungen in der Jetztzeit Einzug hält, das unnötige Rauchen auf der Bühne. Das soll cool wirken, ist aber nicht zeitgemäß, wenn auch ein deutlich jüngeres Publikum angesprochen werden soll. Im Verlauf der Ouvertüre erscheinen alle Protagonisten auf der Bühne, um dann nach kurzen Pseudodialogen wieder zu verschwinden. Das nimmt so etwas den Zauber der Ouvertüre. Wenn sich dann zum ersten Akt die Räume öffnen, sieht man im linken Raum Almaviva im blauen Anzug und schwarzem Hemd gedankenverloren das Familienporträt betrachten. Der Raum ist mehr geschäftsmäßig eingerichtet, während Rosina im rechten Raum eleganter eingerichtet ist, und auch ihr grüner Hosenanzug mit schwarzer Lederjacke zeugt von einem eigenen Stil. Statt Businesssessel ein eleganter Sessel mit Brokatüberzug. Es sind diese optischen Kleinigkeiten, die zeigen, wie weit das Ehepaar sich auseinandergelebt hat.

So entwickelt sich die Handlung, mal bedrückend, mal humorvoll. Die obligatorische Szene, in der Cherubino, hier noch mit Schnauzbart, sich unter der Matratze im Zimmer von Susanna und dem Grafen verstecken muss. Das Lied, das Cherubino für die Gräfin geschrieben hat, wird von Susanna mit dem Smartphone aufgenommen, man ist in der Welt der sozialen Medien angekommen. Der Gesangslehrer Basilio ist ein schmieriger Kerl mit Lars-Eidinger-Frisur, Marcellina der Typ Gouvernante ohne Gefühlsregungen. Bartolo ist schwer herzkrank und kann keine Intrigen mehr spinnen, und der Notar Don Curzio ist eine stotternde Karikatur des Winkeladvokaten, ähnlich wie die Figur des Dr. Blind in der Fledermaus von Johann Strauss.

Besonders humorvoll sind die Szenen mit dem Pagen Cherubino. Wenn er als Mädchen verkleidet werden soll, Susanna ihm einen schwarzen BH überzieht und den Schnauz abrasiert, dann ist das Comedy vom allerfeinsten, denn Cherubino ist ja eine Hosenrolle und wird von einem Mezzosopran gespielt. Wenn Cherubino vor dem Grafen flieht, aus dem Fenster springt und dafür die Scheibe einschlagen muss, dann ist das handwerklich sehr gut gemacht. Wenn Figaro seine Cavatine Non più andrai singt, in der er Cherubino die Vorzüge des Militärs erläutert, dann bleibt kaum ein Auge trocken, das hängt aber auch mit der sehr freizügigen, manchmal schon vulgären Übersetzung der Übertitel zusammen, wenn es heißt „Mit den Soldaten musst du rotzen, saufen, furzen.“ Das kommt besonders beim jüngeren Publikum gut an. Wenn Cherubino, erst mit einem Feuerlöscher, dann mit einer Axt bewaffnet, das Kommen des Grafen erwartet, dann entbehrt das nicht einer gewissen Situationskomik.

Es gibt aber auch Brüche in der Logik der Inszenierung, so wenn Figaro sich im dritten Akt von Barbarina ein Tattoo stechen lässt, was einen Spaten darstellen soll, aber eher wie ein Pfeil aussieht. Das Tattoo soll Beweis sein, dass Marcellina seine Mutter ist. Herzog verkehrt die Geschichte, indem Figaro nur vorgibt, Marcellinas Sohn zu sein, um aus dem vorher geschlossenen Ehevertrag herauszukommen. Doch wie hätte er dann von dem Tattoo wissen können? Auch eine kurze lesbische Avance der Gräfin zu Susanna ergibt keinen Sinn. Das sind die Brüche in der Logik der Inszenierung von Herzog, die aber den Gesamteindruck nicht schmälern sollen. Am Schluss sind die Räume wieder geschlossen, die Bühne ist dunkel, und die letzte große Szene mit dem Kleidertausch von Susanna und der Gräfin sowie der Verwechslungskomödie spielt in einem bedrückenden Dunkel. Die komische Heiterkeit, die sonst von dieser Szene ausgeht, bleibt hier auf der Strecke. Als der Graf erkennt, dass er seine Frau zu Unrecht des Ehebruchs beschuldigt hat, wirft er sich vor Verzweiflung vor ihr auf den Boden und bittet sie um Verzeihung. Musikalisch ist die Szene großartig und emotional, doch wirkt sie seltsam verloren auf der Bühne. Dann öffnen sich die Räume, die Protagonisten im großen Finale der elf Stimmen, die sich da mischen, gehen rückwärts rein, bis die Räume sich wieder schließen und das Kind allein und verstört auf der dunklen Bühne zurückbleibt, ein nachdenkliches und gar nicht heiteres Schlussbild.

Es ist der Abend großartiger Sänger, die allesamt fest am Staatstheater Nürnberg engagiert sind. Julia Grüter als Susanna ist die Hauptfigur, um die sich alles dreht. Sie erträgt geduldig die sexuellen Avancen des Grafen und von Cherubino. Sie lenkt das Spiel von Begierde und Zurückweisung geschickt bis hin zum großen Finale. Mal trotzig wütend, wenn sie Figaro ohrfeigt, mal kokett mit dem Grafen flirtend, dann wieder liebevoll entrückt, wenn sie an den Geliebten denkt. Ihre wunderbar schlank geführte lyrische Sopranstimme kommt vor allem in der großen Rosen-Arie Deh, vieni, non tadar, oh gioia bella im vierten Akt zur Geltung, die sie mit großer Innigkeit und Wohlklang gestaltet. Die Höhen, im zarten Piano verträumt gesungen, berühren tiefe Gefühle. Ihre Stimme zeigt jetzt schon Richtung Gräfin, und es ist auch kein Zufall, dass Grüter in diesem Jahr in Bayreuth als Blumenmädchen im Parsifal und als Hirte im Tannhäuser debütieren wird. Wonyong Kang gibt den Figaro in Spiel und Gesang als kraftvoller, ja, fast schon überschwänglicher Antipode. Er will das Heft des Handelns in der Hand halten, so in seiner Tanz-Arie Se vuol ballare, Signor Contino, die er markant gestaltet, und bemerkt doch gar nicht, dass sowohl der Graf als auch seine Susanna ihn manipulativ beeinflussen. Dramatisch menschlich seine Arie Aprite un po‘ quegli occhi zu Beginn des vierten Aktes, die er mit großer Intensität singt und seinen markanten Bassbariton zur vollen Entfaltung bringt.

Samuel Hasselhorn als Graf Almaviva ist mit seiner noblen Ausstrahlung optisch wie stimmlich eine Idealbesetzung. Er ist ein Verführer par excellence, dem man seine schmeichelnden Liebesschwüre wie auch seine rasende Eifersucht abnimmt. Doch wird er nicht auf seine Libido reduziert, sondern darf auch ganz menschliche, ja, fast schon tragische Züge zeigen. Denn eigentlich ist er ganz einsam und weiß erst am Schluss, was er wirklich an seiner Gräfin hat. Sein mit edlem Timbre geführter, galanter Bariton entfaltet sich besonders wuchtig in der großen Entbehrungsarie Vedrò mentr’io sospiro, felice un servo mio im dritten Akt, in der er sich dramatisch in Rachefantasien ergibt. Sein ausdrucksstärkster Moment ist zweifelslos die finale Szene, in der er seine Gräfin um Verzeihung bittet, Contessa, perdono.  Hier wandelt sich der überhebliche Habitus zu einer tiefen und gefühlvollen menschlichen Geste. Emily Newton überzeugt als Gräfin Almaviva als eine in der Liebe vernachlässigte und in ihrem Gefühlsleben gekränkte, ja, verwundete Frau, die zu Recht um die anhaltende Liebe und Begierde ihres Gemahls bangt. Berückend die leise, lyrischen und innige Interpretation ihrer Auftrittsarie im zweiten Akt Porgi, amor, qualche ristoro, in der sie den Tod herbeisehnt, wenn die Liebe nicht zurückkehrt. Doch sie kann auch leidenschaftlich klagen und Dramatik in die Stimme legen, wie im großen Rezitativ und der Arie im dritten Akt E Susanna non vien … Dove sono i bei momenti. In der zweiten Strophe dieser Arie geht sie in ein berückendes Piano, lediglich in den dramatischen Ausbrüchen vernimmt man ein zu starkes Vibrato in der Stimme.

Corinna Scheurle als Cherubino begeistert als lüsterner, pubertierender Page, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Ihr jugendlich klingender Mezzosopran überzeugt mit Intensität und Durchschlagkraft. Wärme und Gefühl, Irrung und Wirrung legt sie stimmlich akzentuiert in die beiden Arien Non sò più cosa son, cosa faccio und Voi, che sapete che cosa è amor. Almerija Delic verleiht mit ihrem reifen Mezzosopran und ihrer Spielfreude der Rolle der Marcellina eine besondere Note. Wunderbar passend dazu der Bass Taras Konoshchenko als Don Bartolo, der seiner rachsüchtigen Auftrittsarie La vendetta ein markantes Profil verleiht. Veronika Loy verleiht der Figur Barbarina mit hellem Sopran und ausdrucksstarkem Spiel einen besonderen Charakter. Hans Kittelmann als Basilio, Sergei Nikolaev als Don Curzio und Seokjun Kim als Antonio reihen sich sängerisch und schauspielerisch nahtlos in das großartige Sängerensemble ein. Ein Sonderlob hat sich die kleine Ottilie Herzog verdient, die in der stummen Rolle als Tochter des Grafenehepaares eine erstaunliche Bühnenpräsenz zeigt.

Der Chor des Staatstheaters Nürnberg, einstudiert von Tarmo Vaask, ist stimmlich und darstellerisch gut präsent und bereitet dem Publikum ein homogenes Hörerlebnis, wie insgesamt das gesamte Ensemble durch spielerische Intensität überzeugt und damit zu einem kurzweiligen Abend beiträgt. Die Staatsphilharmonie unter der Leitung von Lutz de Veer spielt einen schlanken und dennoch intensiven Mozart. Schon die Ouvertüre, schwungvoll und dynamisch, erzählt von den Wirren eines verrückten Tages, dessen Ende sich musikalisch früh erahnen lässt. Die sinnlich erotisierende Musik Mozarts ist transparent mit schwungvollen Bögen und Phrasierungen und macht die Aufführung zu einem großen musikalischen Genuss, in dem die Sänger im Vordergrund stehen und das Orchester eine dienende Rolle einnimmt. Bei der Premiere wurde die scheidende Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz für ihre musikalische Interpretation umjubelt, an diesem Abend darf Lutz de Veer auch zurecht großen Jubel für eine überzeugende musikalische Interpretation entgegennehmen.

Am Schluss gibt es von dem begeisterten Publikum im ausverkauften Nürnberger Staatstheater enthusiastischen Jubel für ein großartiges Ensemble und ein hervorragend aufgelegtes Orchester. Mit dieser Inszenierung und dieser Aufführungsqualität hat die Oper Nürnberg ihr Repertoire nicht nur um eines der schönsten Opernwerke der Musikliteratur erweitert, es beweist damit auch erneut seine Vielseitigkeit und sein in allen Stimmlagen durchgehend hervorragend besetztes Ensemble, was für eine große Qualität steht. Die vielen jungen Zuschauer an diesem Abend werden hoffentlich wiederkommen. Bis zum Ende der Spielzeit steht das Werk noch achtmal auf dem Programm.

Andreas H. Hölscher