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Aktuelle Aufführungen

Götterfunken zündet

9. SYMPHONIE IN D-MOLL OP. 125
(Ludwig van Beethoven)

Besuch am
6. Januar 2023
(Premiere am 3. Januar 2023)

 

Staatstheater Nürnberg

In vielen Städten wird traditionell zum Jahresausklang Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 in d-Moll Opus 125 aufgeführt. Diese Tradition der Silvesteraufführung von Beethovens 9. Symphonie wurde am Silvesterabend 1918 in Leipzig begründet. Arthur Nikisch führte das Werk damals mit dem Gewandhausorchester Leipzig anlässlich des Endes des Ersten Weltkrieges auf. Diese Tradition ist bis heute erhalten, und Beethovens Neunte wird alljährlich am Silvester-Nachmittag aus dem Gewandhaus live im Fernsehen übertragen. Schon einen Tag vorher kann man Beethovens letzte Symphonie live aus der Semperoper im Rahmen ihres alljährlichen Silvesterkonzertes verfolgen. Insbesondere der Schlusssatz mit Chor und Friedrich Schillers Ode an die Freude appellieren an Werte wie Humanität, Freiheit und Friede. Als Europahymne, einst von Herbert von Karajan arrangiert, versinnbildlicht sie die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt. In einer Zeit, in der in Europa ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg tobt, hat die Botschaft dieses Werkes eine ganz besondere Bedeutung. Daher nimmt die Symphonie nicht nur unter Beethovens Werken eine herausgehobene Stellung ein. Eine Aufführung des Werkes ist auch immer eine Frage der Seele. „Die Neunte sei Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“, sagte Richard Wagner einst.

Die Staatsoper Nürnberg hat nun Beethovens 9. Symphonie als Neujahrskonzert auf den Programmzettel gesetzt, eine klare Botschaft der Hoffnung und Zuversicht. Schon vor Jahresfrist war den Nürnbergern mit der Aufführung von Joseph Haydns Die Schöpfung ein großartiger Start in das neue Jahr gelungen. So ist die Hoffnung bei den Zuschauern groß, dass sich besonders in diesen schweren Zeiten der „Götterfunke“ entzünden möge. Lange hat man es nicht mehr erlebt, dass vor der Vorstellung im restlos ausverkauften Staatstheater Nürnberg viele Menschen noch an der Kasse anstanden in der Hoffnung, dass die eine oder andere reservierte Karte nicht abgeholt würde. Immerhin stand das Werk an vier Tagen hintereinander insgesamt fünfmal auf dem Programm, am Dreikönigstag, dem letzten Tag der Aufführungsserie, sogar zweimal. Im Zuschauerraum kann man es förmlich spüren, wie die groß die Sehnsucht nach diesem Werk ist. Sie soll an diesem Abend nicht enttäuscht werden.

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Joana Mallwitz, die mit Beethovens 9. Symphonie das Jahr ihres Abschieds aus Nürnberg einläutet, wird schon vor Beginn des Konzertes mit großem Beifall bedacht. Und sie beginnt zügig, mit präzisem Schlag und mit viel Körpereinsatz. Die Tempobezeichnung des ersten Satzes Allegro ma non troppo, un poco maestoso nimmt Mallwitz wörtlich, mit rund dreizehn Minuten ist das Tempo schon schnell, ohne dass dabei die Differenzierung der einzelnen Orchestergruppen darunter leidet. Ganz im Gegenteil, der Spannungsbogen baut sich spürbar auf, alles ist von Anfang an auf den großen Finalsatz ausgerichtet. Das beginnt bei den Momenten, aus denen Motive erwachsen, die zu Themen werden, die gewaltige sinfonische Architekturen tragen. Im konkreten Falle sind da zunächst nur fallende Quarten und Quinten. Mallwitz lässt nur ein wenig Luft zwischen ihren Tönen, zwischen den Auftakten und ihrem Ziel. Und es scheint, als berge dieser Wimpernschlag aufgewühlter Stille alle Energie für die folgende musikalische Expedition. Dass es wirklich so ist, beweist der Umstand, dass es sie bei der Wiederholung nicht mehr gibt, diese kaum wahrnehmbare und doch so gewaltige Zäsur. Nun sind sie entfesselt, die sinfonischen Gewalten, schwierig zu zügeln.

Mit dem zweiten Satz hat Beethoven den bisher geltenden klassischen Aufbau einer Symphonie auf den Kopf gestellt. Statt des üblichen langsamen Satzes heißt es nun Molto vivace – Presto, also lebhaft und sehr schnell. Und es gibt in diesem Satz noch eine weitere Besonderheit. Nach einem zweimaligen Motiv durch die Streicher setzt dann abrupt die Pauke ein. Das ist im Übrigen genau an dieser Stelle, an der in der Uraufführung spontaner Beifall ausbrach. Die Stelle erinnert vielleicht auch ein wenig an Haydns Sinfonie mit dem Paukenschlag, in der ja die Pauke auch ganz unerwartet im leisen Pianissimo einsetzt. Das Paukensolo, das sich mehrfach wiederholt, ist deshalb so interessant, weil Intensität und Lautstärke des Paukenschlags nicht nur unterschiedliche Klangfarben erzeugen, sondern die ganze Stimmung des Satzes bestimmt. Wie unterschiedlich der Einsatz der Pauken sein kann, zeigen die beiden Silvesteraufführungen in Dresden und Leipzig. Während Christian Thielemann den Solo-Pauker der Dresdner Staatskapelle sein Instrument an dieser Stelle in einem so noch nie gehörten pianissimo schlagen ließ, ließ Kollege Andris Nelsons seinen Mann an der Pauke im Leipziger Gewandhausorchester im stärksten fortissimo schlagen, ein Gegensatz der Extreme. Joana Mallwitz lässt sich auf solche Experimente nicht ein, die Pauke erklingt in einem angenehmen mezzoforte. Die dreizehn Minuten, die der zweite Satz dauert, entspricht damit genau der von Beethoven vorgegebenen Tempobezeichnung.

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Ein Knackpunkt jeder Aufführung von Beethovens 9. Symphonie ist der langsame dritte Satz, das himmlische Adagio molto e cantabile nebst Andante moderato, wo man noch einmal Luft schöpfen kann vor dem großen Finale. Hier reduziert Mallwitz etwas das Tempo, drückt auf die Bremse, lässt innehalten für erneut dreizehn nicht zu lange, aber schöne Minuten, in dem vor allem die Mittelstimmen nach oben getragen werden, und die Legato-Streicher das Kommando übernehmen. Nach einem kurzen Übergang zum vierten Satz Presto – Allegro assai beginnt das Finale furios, bei der orchestralen Aufnahme der „Freude“-Melodie erklingt das Orchester majestätisch, ein spannungsgeladener Aufbau zum bevorstehenden Finale. Mallwitz lässt mit ausdrucksstarkem Gestus in keinem Moment die Zügel schleifen, entwickelt in den Mittel- und vermeintlichen Nebenstimmen eine große melodische Harmonie, die mit etwa 21 Minuten wieder ein sehr zügiges Tempo zeigt.  Mit einer Gesamtaufführungsdauer von etwas mehr als 60 Minuten ist diese Interpretation recht zügig. Nelsons benötigte für seine Aufführung am Silvesterabend rund 71 min, und Thielemann kam einen Abend zuvor in Dresden mit knapp 74 Minuten schon an die legendäre Aufführung von Wilhelm Furtwängler 1951 in Bayreuth heran, die ja als Referenz für die Laufzeit einer CD gegolten haben soll. Doch unabhängig vom Tempo, entscheidend ist der Ausdruck, die Emotion, die Gefühle, die die Aufführung von Beethovens 9. Symphonie beim Zuhörer oder Zuschauer hervorrufen. Und die sind groß und stark, bewegen an diesem Abend das Nürnberger Publikum. Der „Götterfunken“ hat gezündet, ohne dass das Haus in Brand gerät.

Einen großen Anteil daran haben neben der Staatsphilharmonie Nürnberg unter Joana Mallwitz auch der Chor des Staatstheaters Nürnberg und die Solisten. Bassbariton Wonyong Kang fordert mit der natürlichen und kraftvollen Autorität seiner Stimme ein: „O Freunde, nicht diese Töne!“. Leider klingt Kangs Stimme am Schluss der fünften Aufführung an vier Abenden etwas angestrengt, und sein harter Akzent erleichtert das Textverständnis nicht unbedingt. Die Sopranistin Julia Grüter gestaltet ihren Part hingegen mit leuchtendem Sopran, der vor allem in den Ensemblestellen klar hervorsticht. Die junge Mezzosopranistin Sara Šetar, seit dieser Spielzeit Mitglied des Internationalen Opernstudios, lässt mit einer warmen und kraftvollen Stimme aufhorchen, und der Tenor Simon Bode überzeugt mit einer schönen Oratorien-Stimme. Stimmlich hoch präsent zeigt sich der Opernchor Nürnberg, formidabel einstudiert von Tarmo Vaask. Wenn aus einundzwanzig markigen Männerstimmen „Seid umschlungen Millionen“ ertönt, dann geht das schon durch und durch. Das ist eine von vielen Stellen, die an diesem Abend berühren, die Emotionen wecken, was gerade bei diesem Werk so unabdingbar ist.

Am Schluss steigert sich das gesamte Ensemble zu einem kraftvollen Finale, als wolle man Schillers Botschaft mit aller Macht in die Welt hinaustragen. Das Publikum spendet langanhaltenden und großen Beifall, erhebt sich am Schluss von den Sitzen, dankbar für eine bewegende Aufführung. Der Komponist und Dirigent Peter Aderhold hat einmal geschrieben: „Beethovens Musik gibt uns die Hoffnung, dass wir als Menschen die Kraft, die Vernunft und die Liebe besitzen, zum Guten für alle zu wirken“. Wenn diese Botschaft auch nur ansatzweise das Publikum erreicht hat und weitergegeben wird, dann ist es auch eine große und nachhaltige Aufführung.

Andreas H. Hölscher