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Suche nach dem Helden

SYMPHONIE NR. 3 ES-DUR OP.55 „EROICA“
(Ludwig van Beethoven)

Besuch am
25. März 2023
(Premiere)

 

Staatstheater Nürnberg

Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz hat mit ihren bisherigen „Expeditionskonzerten“ am Staatstheater Nürnberg das Publikum begeistert und für Symphonien neue Zuhörer gewonnen, darunter waren die  Erste Symphonie von Johannes Brahms, die Fünfte und Sechste Symphonie von Ludwig van Beethoven und die Italienische Symphonie von Felix Mendelssohn Bartholdy. Mittlerweile geht die Erfolgsreihe in die fünfte Spielzeit, und  Mallwitz führt wie gewohnt moderierend, dirigierend und am Klavier begleitend durch ein großes symphonisches Meisterwerk und fügt Erheiterndes, Überraschendes, Unbekanntes und auch oft Gehörtes zu einem neuen Erlebnis und Höreindruck zusammen. Es ist aber auch die letzte Spielzeit mit Mallwitz in Nürnberg, denn nach dieser Saison wechselt sie als Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin und wird dort die Nachfolgerin von Christoph Eschenbach. Ob Mallwitz das Konzertformat, das sie als GMD in Erfurt bereits etablierte, auch in Berlin fortsetzen wird, ist noch nicht bekannt. Das Interesse beim Publikum jedenfalls ist ungebrochen, das Nürnberger Opernhaus ist bis auf den letzten Platz gefüllt, und vor der Kasse stehen Menschen mit „Suche-Karte“-Zetteln.

Für dieses Format steht nun zum dritten Mal der Komponist Ludwig van Beethoven auf dem Programm, diesmal mit seiner Symphonie Nr. 3 in Es-Dur op. 55, auch als Eroica bekannt. Mallwitz bezeichnet in ihrer Einführung das Werk als eine rätselhafte Symphonie, vor allem in punkto seiner Entstehungsgeschichte, um die sich viele Anekdoten ranken. Mallwitz erzählt diese Geschichten mit viel Charme und Humor. Beethoven arbeitete an seiner dritten Symphonie im Wesentlichen im Jahr 1803. Einige frühe Skizzen stammen schon aus dem Herbst 1802, möglicherweise waren sie zum Zeitpunkt der Niederschrift aber nur erste Ideen, die noch nicht konkret in Bezug auf die Sinfonie niedergeschrieben wurden. Letzte Änderungen, Ergänzungen und Überarbeitungen brachte Beethoven noch Anfang 1804 an. Es war aber auch eine Zeit, in der es Beethoven körperlich schlecht ging und er sogar zeitweise mit dem Tod rechnete. In diesem Gemütszustand verfasste Beethoven ein Schreiben, das später als „Heiligenstädter Testament“ bekannt wurde. Beethoven wohnte damals in einem freistehenden Bauernhaus außerhalb von Heiligenstadt auf dem Weg nach Nußdorf in der Herrengasse. Dort schrieb der 31-Jährige am 6. Oktober 1802 einen Brief an seine Brüder, in dem er in emphatischen Worten die Sorge um sein schlechter werdendes Gehör, seine gesellschaftliche Isolation, die daraus keimenden und überwundenen Suizidgedanken beschreibt und seinen Nachlass regelt. Obwohl er am 10. Oktober noch eine Nachschrift verfasste, den Papierbogen faltete und versiegelte, schickte er den Brief, der erst 1827 im Nachlass aufgefunden wurde, nicht ab. Neben dem Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ gehört das „Heiligenstädter Testament“ zu den persönlichsten Schriftstücken Beethovens. Mallwitz zitiert aus dem Testament und lässt so die Zuhörer an Beethovens Seelenzustand teilhaben. Doch genau aus diesem Tief heraus führt der Aufbruch zu neuen Wegen, zur Komposition eines Meisterwerkes.

Am 22. Oktober 1803 bot Beethovens damaliger Schüler Ferdinand Ries die dritte Symphonie schließlich dem Bonner Verleger Nikolaus Simrock zum Druck an, und Mallwitz zitiert: „Die Symphonie will er Ihnen für 100 Gulden verkaufen. Es ist nach seiner eigenen Äußerung das größte Werk, welches er bisher schrieb. Beethoven spielte sie mir neulich und ich glaube Himmel und Erde muß unter einem zittern bei ihrer Aufführung. Er hat viel Lust, selbe Bonaparte zu dedizieren, wenn nicht, weil Lobkowitz sie auf ein halb Jahr haben und 400 Gulden geben will, so wird sie Bonaparte genannt.“ Die Uraufführung fand am 9. Juni 1804 in privatem Rahmen im Wiener Palais des Fürsten Joseph Lobkowitz statt, der für einige Monate das alleinige Aufführungsrecht erworben hatte. Das dokumentiert die Honorarrechnung einiger Orchestermusiker, in der ausdrücklich vermerkt ist, dass ein drittes Horn mitwirkte, wie es einzig die Eroica erfordert.

Wie kam es aber zu dem Beinamen Eroica, die „Heroische“? Mallwitz erzählt mehrere Anekdoten und Versionen des Beinamens. Eine beruht auf Anton Schindlers Bericht, der französische General Bernadotte habe die Symphonie angeregt und in Beethoven die Idee geweckt, „den größten Helden des Zeitalters in einem Tonwerke“ zu feiern, indem er eine Huldigungsmusik an Napoleon verfasse. Diese Theorie ist aber laut Mallwitz eher unwahrscheinlich, da Schindler erst 1822 zu Beethovens näherem Umfeld kam und daher kaum Details aus dem Jahre 1803 oder früher kennen konnte. Zudem weilte Bernadotte lediglich zwei Monate im Frühjahr 1798 in Wien. Seine Rolle für Beethoven und die Entstehung der dritten Symphonie kann daher stark bezweifelt werden. Weitere, inhaltlich mehr oder weniger zusammenhängende Entstehungslegenden gehen mittelbar auf Beethovens Arzt Joseph Bertolini zurück, der unterschiedlichen Biografen und Musikern berichtete, Napoleons Zug nach Ägypten und das Gerücht von Nelsons Tod in der Schlacht bei Abukir und der Tod des englischen Generals Abercromby hätten den Trauermarsch veranlasst. Auch Bertolini spielte jedoch im Jahr 1803 noch keine Rolle für Beethoven, er lernte ihn erst 1806 kennen. Napoleons Ägypten-Feldzug fällt in das Jahr 1798, Nelsons Kopfverletzung in der Seeschlacht bei Abukir stammt vom 1. August 1798. Dass Beethoven schon in diesem Jahr eine detaillierte Konzeption der dritten Symphonie gehabt haben soll, mutet genauso unwahrscheinlich an wie die Annahme, Sir Ralph Abercrombys Sieg über Napoleon am 21. März 1801 könne irgendeinen ursächlichen Zusammenhang mit der Eroica gehabt haben.

Die wohl bekannteste These ist mit Sicherheit jedoch die, Beethoven habe die Komposition Napoleon Bonaparte widmen wollen, und das auf dem Titelblatt festgehalten. Nachdem er jedoch von der Kaiserproklamation Napoleons hörte, habe Beethoven wutentbrannt das Titelblatt zerrissen und ausgerufen „Ist der auch nichts anders wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher wie alle andern stellen, ein Tyrann werden!“. Dieser Bericht wird teilweise durch das Titelblatt der überprüften Abschrift der Symphonie gestützt. Tatsächlich wurde hier so heftig herumradiert, dass ein Loch entstanden ist, allerdings war das ganze Titelblatt definitiv nicht zerrissen. Beethovens Einschätzung über Napoleon war durchaus ambivalent und wechselte im Laufe seiner Lebenszeit. Zunächst fasziniert und beeindruckt von den Idealen und Leistungen des Franzosen, ist die von Ries berichtete Enttäuschung über Napoleons Selbstherrlichkeit und Kaiserproklamation offensichtlich historisch.

Nachprüfbar ist am Titelblatt allerdings auch ein weiteres Faktum. Dem durch Rasur entstandenen Loch steht Beethovens eigenhändiger nachträglicher Bleistiftzusatz „geschrieben auf Bonaparte“ gegenüber. Auch berichtet Beethoven im August 1804 an den Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig „die Simphonie ist eigentlich betitelt Ponaparte“. Beethoven dachte wohl nicht daran, die dritte Symphonie Bonaparte zu widmen – schließlich hatte er sie bereits dem Fürsten Lobkowitz verkauft – sondern hielt lediglich auf dem Titel den Namen fest: „intitolata Bonaparte“, was er dann aus Enttäuschung wieder tilgte, daher das Loch, später aber erneut hinzufügte: „geschrieben auf Bonaparte“.

Die erste öffentliche Aufführung fand am Palmsonntag, den 7. April 1805, im Theater an der Wien unter Beethovens eigener Leitung in einem Konzert des befreundeten Geigers Franz Clement statt. Die Erstausgabe erschien im Oktober 1806 im Wiener Kunst- und Industrie-Comptoir, angezeigt in der Wiener Zeitung vom 19. Oktober 1806. Sie trägt den Titel Sinfonia eroica, composta per festeggiare il sovvenire di un grand’uomo, auf Deutsch: „Heroische Sinfonie, komponiert, um die Erinnerung an einen großen Mann zu feiern.“ Möglicherweise entstand der Untertitel erst kurz vor der Veröffentlichung und bezieht sich auf den Tod des auch von den Zeitgenossen Beethovens heldenhaft verehrten Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der am 10. Oktober 1806 auf dem Schlachtfeld bei Jena und Auerstadt gegen die französischen Truppen sein Leben ließ und den Beethoven bei Lobkowitz noch kennengelernt hatte. Beethoven hatte ihm sein drittes Klavierkonzert gewidmet und war eng mit dem Prinzen befreundet. Das steht im Kontext zum zweiten Satz der Symphonie, einem ergreifenden Trauermarsch. Mallwitz sagt, dass mehrere Deutungen möglich sind, letztlich sei auch die Zueignung an einen imaginären Helden nicht auszuschließen. Wer ist also dieser Held? Mallwitz lässt die Zuhörer zunächst noch rätseln und geht nach dieser langen Einführung zur musikalischen Analyse des Werkes über, bei der sie sich am intensivsten mit dem ersten Satz beschäftigt und die verschiedenen Themen und deren Zusammenspiel an kurzen Musikbeispielen mit dem Orchester oder am Klavier vorstellt.

Der erste Satz der Eroica beginnt mit einer Dreiklang-Melodie, die durch eine zweitaktige Einleitung vorbereitet wird. Die zwei Schläge erfolgen jeweils auf der eins eines Taktes. Dieses erste Thema in Es-Dur ähnelt einer Fanfare und taucht im ersten Satz immer wieder an wichtigen Stellen auf. Insofern ist es keine übliche Einleitung, wie man sie aus seiner ersten oder zweiten Symphonie kennt, vielmehr ist man damit von der ersten Note an mittendrin. Mallwitz beschreibt das als ein Anzeichen für den neuen Weg, den Beethoven vor der Komposition erwähnte. Sehr bemerkenswert ist auch, dass der Satz in ungeradem ¾-Takt geschrieben ist – normalerweise steht der erste Satz einer Symphonie in geradem Zeitmaß. Der ¾-Takt verleiht dem Kopfsatz trotz aller Dynamik, Gewalt und Betonung des Rhythmischen auch tänzerische Elemente. Auch die spannende Überleitung vom ersten zum zweiten Thema analysiert Mallwitz in aller Ausführlichkeit und stellt die beiden gegensätzlichen Tonarten Es-Dur und E-Moll gegenüber, mit dem verbindenden G in der Mitte der beiden Themen.

Der zweite Satz aus Beethovens Eroica ist ein Trauermarsch in C-Moll und besteht aus drei Teilen im relativ langsamen Tempo Adagio. Gleich am Anfang beginnen die Violinen mit einem klagenden ersten Motiv, das sie über den Bässen spielen, und im Takt neun wird das Thema mit einem trostvollen Klang in der Oboe wiederholt. Mallwitz beschreibt den Satz als ergreifend und überwältigend und erläutert, wie der Marsch in eine Fuge von äußerster dramatischer Kraft mündet.

Das Scherzo als dritter Satz der Symphonie war eine große Neuerung in der Zeit, in der das Publikum eigentlich mit einem Menuett rechnete. Das Scherzo ist vom leichten und beschwingten Tempo Allegro vivace erfüllt. Alles fließt und geht beinahe nahtlos ineinander über. Mallwitz beschreibt den Satz als flüchtig und unberechenbar. Das Leitthema in Es-Dur erscheint erst in Takt 93, bis dahin fließt der Satz so dahin. Dann ändert sich der Charakter, die drei Hörner setzen ein und die Musik erinnert an eine klassische Jagdszene.

Der vierte Satz ist laut Mallwitz das Verrückteste, was Beethoven bis dato komponiert hatte. Er besteht vor allem aus Variationen, Tänzen und Märschen, deren Hauptthema einem Motiv aus Beethovens Ballett Die Geschöpfe des Prometheus entspringt. Als Vorarbeit für den vierten Satz der Sinfonie können hier auch die Eroica-Variationen, ein Klavierwerk Beethovens, gesehen werden. Das Grundtempo ist ein Allegro molto, der Satz beginnt mit einer toccatenhaften Pizzicato-Passage der Streicher, die ganze elf Takte währt. Das Hauptthema des vierten Satzes ist für Mallwitz ein Schweizer Käse mit vielen Löchern. Auch hier stellt sie wieder die Frage: „Wer ist der Held, dem diese Symphonie zugeeignet wurde?“ Sie spielt mit dem Orchester das Finale der Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus und stellt das Stück in den Kontext zum Symphonie-Schluss, der im schnellen Presto, stürmend, fanfarenfroh und phänomenal in der heroischen Tonart Es-Dur endet.

Mallwitz philosophiert abschließend noch darüber, ob die Symphonie dem Gott Prometheus oder vielleicht sogar Beethoven selbst gewidmet sei? Dann fasst sie ihre gut 70-minütige Analyse und Einführung in die Symphonie zusammen: „Die Eroica ist was Großes, Erhabenes, die Idee eines großen Menschen. Der erste Satz beschreibt das Leben eines Menschen, der zweite Satz seinen Tod. Im dritten Satz erfolgt die Auferstehung, im vierten schließlich ist er im Parnass angekommen“. Definitiv ist es ein neuer Weg, den Beethoven da beschreitet, ein Werk für die Ewigkeit. Und auch Beethoven selbst sah das wohl so. Im Sommer 1817 fragte der Dichter Christoph Kuffner den Komponisten, welche seiner Symphonien er für die bedeutendste halte. Kuffner dachte, es sei die fünfte Symphonie, doch Beethoven erwiderte: Die Eroica! Allerdings war da die berühmte neunte Symphonie mit der Ode an die Freude noch nicht vollendet.

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Nach der langen musikalischen Einführung steht dann die Eroica von Ludwig van Beethoven als komplettes Werk auf dem Programm. Und Mallwitz legt all das in ihr Dirigat ein, was sie in der Analyse so treffend beschrieben hat. Mit großer Dynamik und viel Ausdruck leitet sie die Staatsphilharmonie Nürnberg, da kann es dann schon mal vorkommen, dass vor lauter Explosivität ein Kontrabassist seinen Bogen zu Boden schleudert. Das Orchester spielt einen transparenten und furiosen Beethoven. Der warme Klang der Streicher, die harmonischen Holzbläser und die starken und sauber intonierenden Blechbläser machen aus der Symphonie ein besonderes Erlebnis, das durch die Spielfreude der Musiker noch einmal verstärkt wird. Der erste Satz dauert gerade mal elf Minuten und brennt ab wie ein Feuerwerk. Doch im Trauermarsch des zweiten Satzes zügelt Mallwitz das Orchester, lässt dem pathetischen Klang ein angemessenes Tempo angedeihen, während im Scherzo und im finalen Satz das Tempo wieder angezogen wird, um am Schluss in einem Finale furioso zu enden. Mit einem schon fast atemberaubenden Tempo von insgesamt 40 Minuten, mit viel Effekt und einem großen Klangteppich geht das Expeditionskonzert zu Ende, und das Publikum dankt es mit großem Jubel, im Mittelpunkt der Ovationen steht Joana Mallwitz.

Interessant ist bei der Länge der Symphonie der Vergleich zu einigen bedeutenden Aufnahmen und Dirigenten. Ricardo Chailly und das Gewandhausorchester Leipzig  sind gerade mal drei Minuten langsamer. Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker brauchten einst 48 Minuten, ähnlich wie Nikolaus Harnoncourt, der mit seinem Chamber Orchestra of Europe 47 Minuten benötigte. Deutlich langsamer ist da Andris Nelsons mit den Wiener Philharmonikern, er liegt bei 53 Minuten. Spitzenreiter in dieser inoffiziellen Hitparade ist Christian Thielemann, ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern mit langen 56 Minuten. Aber jede Interpretation hat natürlich ihre Stärken und Schwächen. Auch wenn Mallwitz das Tempo sehr forciert, kommt diese Aufführung weder gehetzt noch durchgepeitscht daher, sondern erklingt schwungvoll und äußerst vital.

Wer das Konzert verpasst hat, dem sei der 9. April 2023 empfohlen, dann wird Joana Mallwitz in Nürnberg ein letztes Mal Beethovens Eroica analysieren und präsentieren. Doch man braucht Glück, um eine Karte zu bekommen, das Konzert ist bereits ausverkauft. Gleiches gilt im Übrigen für ihr Abschiedskonzert am 28. April 2023 in der Nürnberger Meistersingerhalle mit Gustav Mahlers 4. Symphonie in G-Dur.  Am Schluss werben Joana Mallwitz und die Nürnberger Staatsphilharmonie noch in eigener Sache. Als ein „Orchester des Wandels“ möchten sie zum Klimaschutz aktiv beitragen. Dafür ist ein Konzert im Juli in Überlingen auf einem Acker geplant, eine Matinee für Bodenfruchtbarkeit.

Andreas H. Hölscher