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Knapp zehn Jahre nach der Premiere von La Fille Du Regiment steht in Nürnberg als letzte Opernpremiere der Spielzeit 2021/22 mit Der Liebestrank wieder eine Donizetti-Oper auf dem Spielplan. Gaetano Donizetti, gerne auch „Maestro orgasmo“ genannt, gilt neben Rossini und Bellini als einer der drei großen Vertreter des Belcantos und komponierte das Werk um das Liebesglück verheißende Gebräu innerhalb von vierzehn Tagen.
Die Geschichte selbst ist schnell erzählt. Ein Liebestrank soll es richten. Zumindest setzt Nemorino all seine Hoffnung in dieses Gebräu: Schließlich hat er als kleiner Niemand, so die wörtliche Übersetzung seines Namens, sein Herz an die anbetungswürdige, aber eher am schneidigen Belcore interessierte Adina verloren. Welch ein Glück, dass der fahrende Wunderdoktor Dulcamara ein solches Mittel rein zufällig in seinem Sortiment führt. Das Elixier, bei dem es sich freilich um nichts anderes als Alkohol handelt, zeigt auch prompt seine Wirkung: Mit frisch gewonnenem Selbstvertrauen steigt Nemorino zum begehrtesten Junggesellen weit und breit auf – wozu das Gerücht einer beträchtlichen Erbschaft wohl nicht unwesentlich beiträgt. So gelingt es Nemorino nicht nur, seinen Nebenbuhler auszustechen, sondern letztlich auch Adinas Herz zu gewinnen. Man könnte meinen, diese Geschichte ist auserzählt, und in die heutige Zeit nicht übertragbar. Weit gefehlt. Wie aktuell die Geschichte und auch das Libretto sein können, das zeigt das Team um Regisseurin Ilaria Lanzino, das die Handlung in zwei Zeiten, ja, in zwei Welten verlegt, die parallel existieren. Lanzino bedient sich dabei des Kunstgriffs, die Person des Dulcamara zu duplizieren und ihn aus einer digitalen Zukunft erscheinen zu lassen, als Dulcamara 2.0. Diese Bezeichnung ist auch Synonym für alles, was sich im Hauptteil der Inszenierung auf der Bühne abspielt, nämlich eine futuristische Vision, in der die sozialen Medien die Herstellung einer Scheinwelt übernommen haben.
Um die Handlung in dieses zweigeteilte Regiekonzept einfügen zu können, hat Lanzino für ihre Nürnberger Fassung einige szenische Umstellungen vorgenommen, die die Reihenfolge der musikalischen Nummern im ersten Akt betreffen. Anfangs wird die klassische Geschichte dieser Oper quasi im Schnelldurchlauf bis zur Hochzeit von Adina und Nemorino erzählt. Das mag für Belcanto-Puristen anstößig sein, für die Spannung und Dramaturgie des Werkes in dieser Inszenierung ist es ein Gewinn. Durch das Erscheinen von Dulcamara 2.0 wird die klassische Handlung jäh unterbrochen. Der digitale Wunderdoktor verkauft mit seiner Auftrittsarie seinen modernen Liebestrank, quasi ein Elisir 2.0, und die Geschichte beginnt abermals, aber diesmal in einer futuristischen Zukunft.
Foto © Bettina Stöß
Das Bühnenbild des klassischen Anfangs, identisch mit dem Finale, ist ein romantisches Landidyll, von den Kostümen her gut passend zur Entstehungsgeschichte des Werkes um 1832. Das gemalte Bühnenbild mit Holzschuhtanz des Chores könnte auch für eine konventionelle Inszenierung von Webers Freischütz oder Lortzings Zar und Zimmermann durchgehen. Für das Bühnenbild und die Kostüme ist Emine Güner verantwortlich. Mitten in diese heitere Hochzeitsstimmung erscheinen aus dem Bühnenboden drei futuristische Gestalten, Dulcamara 2.0 und Mitarbeiterinnen. Dulcamara ist ganz in schwarz gekleidet, mit einer magentafarbenen Krawatte und einem kalkweißen Gesicht, wahrlich kein Sympath. Und er übernimmt sofort das Kommando, verkauft seinen modernen Liebestrank, die digitale Scheinwelt der sozialen Medien. Alle Protagonisten wechseln nun in die Zukunft, sichtbar an ihren bunten und schrillen Kostümen, ausgestattet mit imaginären Smartphones oder Tablets. Lediglich Nemorino und Dulcamara 1.0, der echte Wunderdoktor, verbleiben in ihren klassischen Kostümen, als Relikt einer scheinbar antiquierten Vergangenheit. Aus Belcore, dem schneidigen Offizier und Rivalen von Nemorino um die Gunst Adinas, wird ein obszön wirkender, aalglatter Internet-Guy, so auswechselbar wie eine Unterhose. Auf von der Bühnendecke herabgelassenen Bildschirmen sieht man aufgepimpte Profilbilder von Herrn Bauer und Frau Müller, die um Follower-Zahlen kämpfen. Auf „Finder“, eine Anleihe an die Dating-App Tinder, suchen die Paare nach den besten Matches. Und da scheint es zwischen Adina, die sich sofort in der digitalen Welt behauptet, und dem adaptierten Belcore zu passen. In Boxen sitzend, über Webcams auf die Bildschirme übertragen, erfolgt die Kommunikation untereinander. Auch Virtual-Reality-Brillen dürfen in dieser digitalen Scheinwelt nicht fehlen, wo alles oberflächlich ist und für wahre Gefühle und Werte kein Platz mehr ist.
Der echte Dulcamara scheint überflüssig zu sein, er beobachtet das Geschehen nur noch aus der Ferne und überlegt, sich den Strick zu nehmen, während Dulcamara 2.0 etwas Diabolisches an sich hat, wenn er wie ein Mephisto wieder einmal im Bühnenboden verschwindet, um dann, Champagner trinkend, aus der Proszeniumsloge heraus die Hochzeit von Adina und Belcore zu inszenieren, die natürlich live per Video übertragen wird. Erst durch Nemorinos große Arie Una furtiva lagrima erkennt Adina die wahren Werte des Lebens und der Liebe, die nicht auf Schein und auf Follower-Zahlen ausgerichtet sind, sondern die Persönlichkeit des Menschen in den Vordergrund stellen. Und dann ist der futuristische Spuk vorbei, man befindet sich wieder in der alten, klassischen Geschichte, und dem Happyend der beiden steht nichts mehr im Wege, während Belcore einen neuen Versuch bei Adinas Freundin Gianetta startet.
Lanzino, die von sich selbst behauptet, zu einer Generation zu gehören, die zur Hälfte analog und zur Hälfte digital aufgewachsen ist, beobachtet eine Spaltung in der Gesellschaft, die „teilweise generationsbedingt ist, aber letztlich doch alle betrifft.“ Ihr Regie-Konzept ist simpel und genial zugleich. „Der Einbruch von Dulcamara 2.0, also der digitalen Welt, stellt das einfache Glück der Dorfgemeinschaft in Frage. Die Menschen lassen sich verführen durch die Macht des Scheins und das Versprechen von Mehr.“ Lanzinos Geschichte des L’elisir d’amore ist das „Abenteuer von zwei Bauern (Nemorino und Dulcamara 1.0), die sich in der rasant verändernden Gesellschaft nicht zurechtfinden, aber schließlich nach einem Kompromiss zwischen radikaler Ablehnung und Assimilation suchen.“ Das Konzept geht im Einklang mit den Bühnenbildern und Kostümen der zwei Welten voll auf, und sogar der gesungene Text passt zu den futuristischen Bildern. Die Videos von Torge Möller und die hervorragende Lichtregie von Kai Luczak lassen die digitale Welt auf der Bühne real erscheinen und machen aus dieser Belcanto-Oper ein buntes, heiteres, aber auch nachdenkliches Spektakel. Trotz dieses futuristischen Designs ist die Inszenierung nicht am Werk vorbei gemacht, sondern punktgenau und dezidiert auf die Musik und das Libretto zugeschnitten, was erstaunlich gut funktioniert.
Foto © Bettina Stöß
Auch musikalisch und sängerisch stimmt die Mischung an diesem Abend. Allen voran Andromahi Raptis mit ihrem fulminanten Rollendebüt als Adina. Als Erzengel Gabriel in Haydns Schöpfung wusste sie schon zu Jahresbeginn mit ihrem zarten lyrischen Sopran, der sich in leuchtende Höhen schraubt und dennoch immer sehr textverständlich bleibt, zu begeistern. Mit leichtem Stimmansatz bewältigt sie mühelos die Koloraturen und die dramatischen Höhen, Registerwechsel und Tessitura sind bei ihr perfekt angelegt, wie zum Beispiel in der großen Arie Chiedi all’aura. Ihr Spiel als IT-Girl ist köstlich, und die Rückverwandlung in die liebende Frau zum Schluss gelingt ihr vorzüglich. Sergei Nikolaev gelingt als Nemorino mit seinem schönen, leicht baritonalen Tenor und ansprechendem Spiel ebenfalls ein überzeugendes Rollendebüt. Höhepunkt ist seine große Arie Una furtiva lagrima, die er mit großem stilistischem Ausdruck und der notwendigen Melancholie interpretiert, der Szenenapplaus dafür mehr als berechtigt. Samuel Hasselhorn begeistert mit kraftvollem und doch schmeichelndem Bariton und chargierendem Spiel als eitler selbstverliebter Belcore, während Michal Rudziński als Dulcamara und Taras Konoshchenko als Dulcamara 2.0 sich die Rolle teilen. Konoshchenko weiß mit seinem markanten Bass und mephistophelischem Spiel zu überzeugen, auch Rudziński als Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg lässt mit schmeichelndem Gesang und komödiantischem Spiel aufhorchen. Hayoung Ra als Gianetta kann die wenigen sängerischen Passagen überzeugend gestalten.
Der Chor des Staatstheaters Nürnberg, hervorragend von Tarmo Vaask eingestellt, überzeugt durch eine beeindruckende Stimmharmonie und engagiert witzigem Spiel. Gastdirigent Roland Böer lässt die Staatsphilharmonie Nürnberg einen leichten, aber intensiven Donizetti spielen. Und gerade diese Leichtigkeit aus dem Graben auf die Bühne und ins Publikum zu transponieren, ist eine große Herausforderung. Er wechselt die Tempi, ohne sich zu vergaloppieren und begleitet sehr sängerfreundlich das Ensemble. Das Publikum im nicht ganz ausverkauften Nürnberger Opernhaus ist am Schluss nach knapp zweieinhalb Stunden Aufführungszeit begeistert, es gibt lautstarken Jubel für alle Protagonisten, einschließlich des Regieteams, das nur einige wenige und verhaltene Buhs entgegennehmen muss. Es ist ein spannender Opernabend, der gezeigt hat, dass klassische und moderne Inszenierungen in Einklang gebracht werden können, wenn man nicht am Werk vorbei inszeniert. Das gelingt in Nürnberg eindrucksvoll. Diese Inszenierung hat nicht nur das Zeug zum Dauerbrenner, sie könnte auch ein jüngeres Publikum begeistern.
Andreas H. Hölscher