O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Triumph der Güte

LA CENERENTOLA
(Gioacchino Rossini)

Besuch am
3. Juni 2023
(Premiere)

 

Staatstheater Nürnberg

Das Aschenputtel ist sicher eines der bekanntesten und beliebtesten Märchen. Es gibt unzählige Fassungen und Versionen des Stoffes. Walt Disney hat es als Cinderella bekannt gemacht, und eine der bekanntesten Filmversionen ist die jährlich zur Weihnachtszeit im deutschen Fernsehen ausgestrahlte Adaption von Drei Haselnüsse für Aschenbrödel mit der wunderbaren Filmmusik von Karel Svoboda. Fast ein Dutzend Opernversionen des Stoffes gibt es, Komponisten wie Jules Massenet und Ermanno Wolf-Ferrari haben es vertont, aber die populärste und bis heute meist gespielte Fassung ist La Cenerentola von Gioacchino Rossini, die jetzt in einer Neuinszenierung im Staatstheater Nürnberg zu sehen ist.

Es ist der scharfe Kontrast zwischen der edelmütigen, ja, sanften Version des französischen Dichters Charles Perrault, die dem Libretto dieser Oper als Vorlage dient, und dem brutalen und moralisierenden Märchen der Gebrüder Grimm. Bei Rossinis Vertonung ist es nicht die böse Stiefmutter, die das arme Aschenputtel erniedrigt, sondern der dumme, selbstgefällige Stiefvater Don Magnifico. Der lebt mit seinen Töchtern Clorinda, Tisbe und seiner ungeliebten Stieftochter Angelina, genannt Cenerentola, das Aschenputtel. Da erscheint Prinz Ramiro, der auf Brautsuche ist, als Diener verkleidet im Hause Magnificos. Vorher hat er Rolle und Kleidung mit seinem Diener Dandini getauscht, der sich wiederum als Fürst ausgibt und die Familie auf sein Schloss einlädt. Aschenputtel muss zu Hause bleiben. Während die beiden Schwestern Clorinda und Tisbe um die Gunst des vermeintlichen Prinzen buhlen, erscheint das Aschenputtel als festlich gekleidete, verschleierte, schöne Unbekannte. Sie schenkt ihre Gunst dem angeblichen Diener, verlangt aber von ihm, sie in ihrem Haus zu suchen und zu finden. Als Erkennungszeichen gibt sie ihm einen Schuh. Don Magnifico erfährt, dass Clorinda und Tisbe um den Falschen geworben haben und seine Anstellung als Kellermeister in Gefahr gerät. In der Nacht tauchen dann Dandini und Ramiro in Don Magnificos Haus auf, jetzt aber ohne Rollentausch. Don Ramiro erkennt in dem Aschenputtel die schöne Unbekannte, der Schuh passt und er hält um ihre Hand an. Am Schluss verzeiht Angelina ihrer Familie allen Unbill, den sie ertragen muss, und es ist der Triumph der Güte über alle Rachegefühle und Erniedrigungen.

In der Nürnberger Fassung übersetzt Regisseur Jan Philipp Gloger, Schauspieldirektor des  Staatstheaters Nürnberg, die märchenhafte Handlung einer berührenden Liebesgeschichte vor dem Hintergrund sozialer Spannungen ins Heute und bringt eine „Wedding-Castingshow“ auf die Bühne im Opernhaus. Die Aufregung in der Damenwelt ist beträchtlich, denn die beste Partie des Landes ist auf dem Heiratsmarkt. In einem Casting soll sich Prinz Ramiro für eine Gattin entscheiden. Clorinda und Tisbe, die schönen und zickigen Töchter des bankrotten Don Magnifico, bereiten sich auf den großen Tag vor, sekundiert von ihrer gutherzigen Halbschwester, der Patchwork-Verliererin Angelina. Der bescheidene Prinz aber tauscht die Rollen mit seinem großkotzigen Diener Dandini und sucht nach inneren Werten, sodass Aschenputtel schließlich alle Bewerberinnen überholt.

Foto © Ludwig Olah

Gloger spricht in seiner Inszenierung zwei Themen an. Die Beeinträchtigung am sozialen Leben durch eine Behinderung und die auf oberflächliche Schönheitsideale fixierte Welt junger Mädchen. Für Gloger, der ja vom Schauspiel kommt, ist Theater ein Ort, wo man sich mit Menschen und ihren sozialen Konflikten auseinandersetzt und ihnen so näherkommt. Gloger sagt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der viele Ausschlussmechanismen wirken, die nicht sichtbar werden, wenn solche Geschichten nicht erzählt werden. Das habe ihn bewogen, Cenerentola mit einer angeborenen Gehbehinderung zu zeigen. Der zweite Grund war, dass er eine Entsprechung für Rossinis Komödie finden wollte in einer auf glatte, genormte Schönheitsideale fixierten Welt. Und so verlegt Gloger das Setting kurzerhand in eine moderne Casting-Show, einem Mix aus Germany’s Next Topmodel und Der Bachelor. „Marry the Prince – Die Hochzeitsshow im Staatstheater Nürnberg“ ist quasi der Titel dieser Opernfassung. Und in der Welt der schönen und vermeintlich perfekten Models hat eine gehbehinderte junge Frau, die auch noch von der eigenen Familie gemobbt und heruntergemacht wird, keine echte Chance.

Doch auch der Prinz, der am Ende zum „Bachelor“ wird, möchte nicht wegen seines Geldes und seines Glamours geliebt werden. Daher der Rollentausch mit seinem eitlen und großkotzigen Diener Dandini. Ramiro schlüpft dabei in die Rolle eines Bühnentechnikers, der in der Hierarchie des Theaters auch eher ein Außenseiter ist. Und am Ende finden diese zwei Außenseiter zusammen, obwohl auch ihr Weg von gesellschaftlichen Normen und Hindernissen gepflastert ist. Herrlich dabei auch die Anspielung auf eitle Väter, die ihre Töchter dabei groß rauskommen sehen wollen. Der Herrenchor ist hier schauspielerisch auf großem Niveau. Ein Chorsänger ist verkleidet wie ein Rocker aus einem Motorradclub, ein anderer ist eine Parodie auf den Möchtegernstar Robert Geiss. Hier spielt Gloger auch ganz bewusst mit gesellschaftlichen Klischees.

Bevor die Vorstellung beginnt, erscheint ein Herr mit Mikrofon auf der Bühne. Das bedeutet in der Regel nichts Gutes. Ein kurzer Schrecken im Publikum, wer ist akut erkrankt? Doch es kommt noch schlimmer. Der Herr verkündet ziemlich emotionslos, dass die heutige Vorstellung aufgrund drastisch gestiegener Kosten ausfallen muss. Stattdessen habe man mit der Stadt vereinbart, die Heiratsshow Marry the Prince im Staatstheater Nürnberg zu spielen. Bevor der Herr sich noch weiter auf der Bühne auslassen kann, wird er von einem mit einem rosa Jackett elegant gekleideten Herrn, es ist Don Ramiro, der Prinz von Salerno, etwas unsanft von der Bühne gedrängt, und die Ouvertüre kann beginnen. Vor dem Vorhang ziehen sich Ramiro und Dandini bis auf ihre bunten Unterhosen aus und tauschen die Rollen, wobei Ramiro einem Bühnentechniker dessen Montur abkauft und so in die Rolle eines Mitarbeiters der Casting-Show schlüpft. Sehr witzig gemacht, allerdings auch mit viel Unruhe auf der Bühne und im Publikum, was den Hörgenuss dieser herrlichen Ouvertüre leider etwas trübt.

Der Vorhang hebt sich, man erblickt eine offene Bühne mit zahlreichen Requisiten, es ist der Blick hinter die Kulissen vor einer Aufführung. Das Bühnenbild stammt von Ben Baur und Linda Siegismund. Die Menschen auf der Bühne laufen in ihrer Alltagskleidung umher, später verwandeln sich die Mädels in Glamour-Models in Glitzerkleidern. Die Kostüme hat Justina Klimczyk entworfen. Angelina muss ihren beiden zickigen und eitlen Halbschwestern Clorinda und Tisbe beim Umkleiden und Frisieren helfen. Ihr linkes Bein steckt in einer Orthese-Schiene, wie man sie nach einer Knieoperation trägt. Dadurch ist sie nicht nur gehbehindert, aufgrund ihres sozialen Status auch eine Außenseiterin, die keine Chance hat, in die Welt der Reichen und Schönen einzutauchen. Dann taucht plötzlich im Parkett ein vermeintlich Obdachloser auf, mit Bettelbecher und einem Schild „Habe Hunger“. Er stürmt durch die erste Reihe des Parketts, sehr zum Erstaunen des Publikums, um nur wenige Augenblicke später auf der Bühne zu stehen und die drei Schwestern anzubetteln. Es ist Alidoro, der weise Berater von Don Ramiro, der inkognito die Gefühlswelt der vermeintlichen Hochzeitskandidatinnen prüfen möchte. Während Clorinda und Tisbe sich angewidert abwenden, gibt Angelina ihm ein Sandwich aus ihrer Brotbox. Alidoro spürt sofort, dass die junge Frau mit dem Handicap etwas besonderes ist und bringt sie mit dem Prinzen, der als Bühnentechniker verkleidet ist, in Verbindung. Schnell funkt es zwischen den beiden, während um sie herum eine abstruse Vorbereitung der Casting-Show beginnt. Ein Höhepunkt der Aufführung ist, wenn Angelina als elegant gekleidete Dame im langen Kleid und mit versteckter Beinschiene auf einem herzförmigen Leuchtdiodenbogen von der Decke herabgelassen wird und natürlich alle anderen Kandidatinnen aussticht. Am Schluss fällt der „Bachelor“ Don Ramiro, mit einer großen Rose in der Hand, seine Entscheidung, die eigentlich schon längst feststeht. Angelina, im üppigen Glitzerkleid, ist seine Auserwählte. Doch als sie erkennt, dass ihr Geliebter kein Bühnentechniker ist, sondern der Glamour-Prinz, zweifelt sie an der gemeinsamen Zukunft und reißt sich ihr Kleid vom Leib, damit auch die Schiene wieder sichtbar wird. Ramiro zieht sich wieder die Bühnentechniker-Montur an, und nun abseits aller Konventionen und sozialen Erwartungshaltungen kann das Paar in eine vielleicht glückliche Zukunft gehen.

Gloger hat seine Inszenierung mit den Klischees der Casting-Shows und dem Thema Exklusion in der Gesellschaft in dieser modernen und zeittypischen Aufführung auf den Punkt gebracht. Besonders bemerkenswert ist, dass die freizügige Übersetzung des Librettos in den Übertiteln schon wie bei Le nozze di Figaro ebenfalls gut zum Setting passt und man den Eindruck hat, diese Rossini-Oper sei keine 200 Jahre alt. Es ist mehr als lobenswert, dass Gloger die Thematik Behinderung und Exklusion auf die Bühne gebracht hat. Doch die Beinschiene Angelinas stellt sich im Verlaufe der Inszenierung eher als untergeordnetes Handicap dar. Vielleicht hätte Gloger hier noch etwas mutiger sein dürfen und eine Cenerentola im Rollstuhl gezeigt, dann wären die Extreme noch drastischer gewesen und der Spiegel der Gesellschaft noch deutlicher zum Ausdruck gebracht worden. Doch auch so ist genug Diskussionsstoff geboten, und Gloger zeigt, wie aktuell ein altes Märchen heute sein kann. Dass Gloger vom Schauspiel kommt, wirkt sich besonders positiv auf den Ausdruck in Gestik und Mimik der Protagonisten aus, ohne dabei die Rolle des Gesangs in den Hintergrund zu drängen.

Foto © Ludwig Olah

So haben alle Darsteller auf der Bühne große Freude an dem Stück und spielen mit herzerfrischendem komödiantischem Gestus. Corinna Scheurle als Angelina gelingt spielerisch der Wandel von der gehbehinderten Außenseiterin zur edlen, großmütigen Dame, deren Handicap nicht mehr im Vordergrund steht. Mit ihrem jugendlich schlanken Mezzo-Sopran und ihrer warmen Mittellage gelingen ihr auch die schwierigen Koloraturen und Parlando-Stellen mit scheinbar müheloser Leichtigkeit. Auch ihre stimmliche Wandlungsfähigkeit in so unterschiedlichen Rollen innerhalb von wenigen Wochen wie dem Cherubino in Mozarts Le nozze di Figaro stellt sie in dieser Produktion auf sehr beeindruckende Weise dar. Sergei Nikolaev als Don Ramiro überzeugt mit klarem und kräftigem Spinto-Tenor sowie herrlich komödiantischem Spiel, mit leichten Anstrengungen in der Höhe zum Schluss. Ben Connor in der Rolle des eitlen und großkotzigen Dandini läuft hier in der Doppelrolle als Kammerdiener und verkleideter Prinz mit seinem warmen und schmeichelnden Bariton zu spielerischer und sängerischer Hochform auf. Taras Konoshchenko gibt mit markantem Bass und herrlich komödiantischem Spiel die Karikatur des Möchtegern-Prinzipalen Don Magnifico. Nicolai Karnolsky überzeugt mit sonorem Bass und großer Bühnenpräsenz als weiser Alidoro. Die Sopranistin Chloë Morgan als Clorinda und die junge, vom internationalen Opernstudio kommende Mezzosopranistin Sara Šetar als Tisbe geben herrlich komisch und schrill die beiden einfältigen und eitlen Töchter Magnificos und komplettieren ein formidables Sängerensemble. Der Herrenchor, präzise einstudiert von Tarmo Vaask, zeigt nicht nur sängerisch erste Güte, sondern beeindruckt durch ein engagiertes Spiel.

Björn Huestege ist an diesem Abend in seinem Element, er leitet die Staatsphilharmonie Nürnberg mit viel Verve und Lebensfreude. Es wird leicht musiziert, die Wechsel zwischen Rezitativen, Arien und Orchestermusik erfolgen ohne Brüche, mit den farbenreichen typischen Rossini-Bögen. Und auch das berühmte Rossinische Crescendo lässt Huestege voll wuchtig erklingen, während in den filigranen Parlando-Stellen das Orchester wieder ins piano geht, was der Begleitung der Sänger sehr dienlich ist.

Das Publikum im leider nicht ganz ausverkauften Staatstheater Nürnberg ist am Schluss nach gut drei Stunden Aufführungszeit restlos begeistert, es gibt großen Jubel für alle Protagonisten auf der Bühne, unter denen Corinna Scheurle am lautesten gefeiert wird. Auch das Regieteam erhält zurecht große Anerkennung für eine bemerkenswerte und in allen Punkten überzeugende Inszenierung. So aktuell kann eine über 200 Jahre alte Oper sein. Nach Le nozze di Figaro ist dem Staatstheater Nürnberg mit La Cenerentola innerhalb eines Monats ein weiterer Publikumsmagnet geglückt, insgesamt elf Vorstellungen stehen bis Ende Juli noch auf dem Spielplan.

Andreas H. Hölscher