O-Ton

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Patrik Hévr - Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Verachtet mir die Meister nicht

ABSCHLUSSKONZERT MEISTERKLASSE
(Ludwig van Beethoven, Benjamin Britten, Sergei Rachmaninoff)

Besuch am
18. Februar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Musiksaal in der Kongresshalle Nürnberg

Wenn am Schluss von Richard Wagners einziger heiterer Oper Die Meistersinger von Nürnberg Walter von Stolzing die ersungene Meisterehre ablehnt, nötigt diese Handlung das Eingreifen von Hans Sachs mit seinem großen Schlussmonolog „Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst“, um Stolzing zur Vernunft zu bringen und die hohe Auszeichnung am Schluss doch noch, wenn auch etwas widerwillig, anzunehmen. Das diese Situation beim Abschlusskonzert Meisterklasse der Hochschule für Musik Nürnberg im Musiksaal der hiesigen Kongresshalle, Spielstätte der Nürnberger Symphoniker, eintreten würde, war natürlich nicht zu erwarten, denn für die Absolventen der diversen Meisterklassen endet mit diesem Konzert ein langjähriger, oft steiniger und schwieriger Weg ihrer musikalischen Ausbildung, der mit der Meisterehre gekrönt wird. Dass die Darbietung vor Publikum, überwiegend Freunden, Familie, musikalischen Weggefährten, aber auch vielen Kennern und Liebhabern konzertanter Darbietung mit Aufregung und Nervosität einhergeht, das ist menschlich und allzu verständlich. Aber auch das macht den zukünftigen Meister aus, im entscheidenden Moment alles andere auszublenden und sich ausschließlich auf die eigene Darbietung zu fokussieren, wie ein Leistungssportler in einem olympischen Finale. Den angetretenen Meisteranwärtern gelingt das in ganz unterschiedlichen Ausprägungen.

Eröffnet wird das Abschlusskonzert Meisterklasse mit Eunjoo Kang, die sich mit dem Konzert für Klavier Nr. 4 op. 58 in G-Dur von Ludwig van Beethoven präsentiert. Das Klavierkonzert entstand in den Jahren 1805 bis 1806 und wurde im März 1807 in Wien bei einem halbprivaten Konzert im Palais Lobkowitz und am 22. Dezember 1808 mit Beethoven als Solisten am Theater an der Wien öffentlich uraufgeführt. Das Konzert stand an diesem Tag auf dem Programm einer Akademie, bei der auch Beethovens Sinfonien Nr. 5 und 6, Teile seiner Messe in C-Dur, op. 86, sowie die Chorfantasie uraufgeführt wurden. Beethoven widmete sein 4. Klavierkonzert dem Erzherzog Rudolph. Zusammen mit seinem 5. Klavierkonzert in Es-Dur stellt dieses Werk Beethovens wichtigsten Beitrag zur Gattung des Klavierkonzertes dar. Die in der Musikwissenschaft so oft diskutierte Verschmelzung von Sinfonie und Klavierkonzert zum sogenannten sinfonischen Klavierkonzert findet hier einen Anfang. Der Sinfoniker Beethoven erweitert die vormals differenzierte Form des Solokonzertes um den sinfonischen Aspekt. Erstmals bei Beethovens Solokonzerten bilden auch die drei kontrastreichen Sätze inhaltlich eine Einheit. Lyrische und idyllische Gedanken stehen im Vordergrund des Werkes. Das G-Dur-Konzert schlägt, ebenso wie sein späteres Es-Dur-Konzert, Brücken zur nachfolgenden Epoche der Romantik. Robert Schumann sah in ihm „Beethovens vielleicht größtes Klavierkonzert“. Es gibt viele Aufnahmen des Konzerts, eine ganz berührende und sicher auch als Referenzaufnahme geltende Einspielung ist die mit Rudolf Buchbinder am Flügel, begleitet von der Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann. Wer diese Aufnahme im Ohr hat, der weiß, dass Beethoven an den Beginn des ersten Satzes ein Thema von zarter und lyrischer Schönheit stellt. Mit leisen G-Dur-Akkorden wird der Satz in piano-Lautstärke vom Klavier eröffnet. Das Allegro führt sich mit einem melodischen Thema ein, das gleichzeitig eine Art rhythmisches Grundgerüst für den weiteren Verlauf des Satzes ist. Kang eröffnet das Konzert mit mäßigem Tempo, doch ihr vergleichsweiser harter Anschlag lässt von der zarten Lyrik des Beginns nicht allzu viel übrig. Nun mag es der interpretatorischen künstlerischen Freiheit der jungen Pianistin geschuldet sein, das Konzert etwas rauer und kräftiger anzugehen, doch dann muss im weiteren Verlauf die Differenzierung erfolgen, die die vielen Farbkontraste zeigt, und natürlich muss das Wechselspiel von piano und forte herausgearbeitet werden, denn dieses Klavierkonzert lebt von den Kontrasten. Da bleibt Kang etwas zu oberflächlich. Ihr Spiel ist technisch gesehen ohne Fehl und Tadel, aber es wirkt über weite Strecken uninspiriert, es berührt nicht. Vielleicht ist es der Nervosität geschuldet, dass Kang sich in ihrem Spiel mehr auf die technisch saubere Wiedergabe des Werkes konzentriert, vielleicht aber auch der etwas langweiligen und phasenweise abgehackten Begleitung des Sinfonieorchesters der Hochschule für Musik Nürnberg unter der Leitung von Guido Johannes Rumstadt, der ihr da keine große Hilfe ist. Erst im dritten Satz scheint Kang befreit aufzuspielen, tritt in einen echten Dialog mit dem Orchester ein und schafft es dann zum Schluss, doch noch farbenreichen Kontrast in der presto-Stretta zu zeigen. Es gibt großen Applaus für die junge Koreanerin, die nach Bachelor-Studium in Seoul und Masterstudium in Frankfurt nun das Meisterklassenstudium bei Wolfgang Manz in Nürnberg absolviert hat.

Eine ganz besondere Herausforderung in diesem Abschlusskonzert hat der Tenor Ruihang Sun vor sich, mit der Serenade für Tenor, Horn und Streicher, op. 31, einem Liederzyklus auf Texte von englischen Dichtern, vertont von Benjamin Britten. Diese Serenade ist eigentlich ein Nachtstück und sollte ursprünglich Nocturnes heißen, erst unmittelbar vor der Uraufführung wurde es in Serenade umbenannt. Auch wenn das Stück die Poesie der Nacht zelebriert, ist es kein harmlos-gemütliches Stück. Selbst in den pastoralen und klangschönen Beschwörungen der englischen Landschaft gibt es beunruhigende Bilder, die von Schatten und Trugbildern der zunehmenden Dunkelheit erzeugt werden. Da wird aus einer Ameise schon mal ein „monstrous elephant“, wie es im ersten Lied heißt: Die Finsternis kann Dämonen erwecken, die Menschen sind verletzlich in der Dunkelheit. All diese Komponenten schwingen in dem scheinbar so romantisch-idyllischen Werk mit. Britten komponierte den Zyklus im Frühjahr 1943, während er wegen einer Masern-Infektion auf der Isolierstation eines Londoner Krankenhauses lag. Nachdem er in seinem früheren Zyklus Les illuminations bereits Gesang und Streicher verbunden hatte, fügte er hier nun das Horn als eine Art Nebensolist hinzu. Die sechs Lieder des Zyklus‘ werden von einem Prolog und einem Epilog umrahmt, beide gespielt vom solistischen Horn. Die charakteristischen „Unsauberkeiten“ der Naturtonskala des Horns sollten dabei nach Brittens Vorstellung durchaus erhalten bleiben, da sie den speziellen Ton des Werkes formen. Diese reizvolle wie auch herausfordernde Aufgabe übernimmt heute Abend Anna Bauregger aus der Meisterklasse von Johannes Otter, die den Anforderungen Brittens gewachsen ist. Den Epilog spielt sie, wie vorgegeben, hinter der Bühne, daher ist ihr Instrument im letzten Lied auch ausgespart.

Ruihang Sun – Foto © O-Ton

Viele Tenorpartien von Brittens Opern und viele Lieder waren für die Aufführung durch seinen Lebensgefährten gedacht, den Tenor Peter Pears, den Britten im Jahr 1937 kennengelernt hatte. Textlich liegt diesem Liederzyklus eine eigenartige Zusammenstellung von sechs englischen Gedichten über die Nacht zugrunde; sie reichen vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert. Zentral für die kompositorische Grundidee Brittens erscheint dabei besonders das zweite Gedicht, Nocturne von Alfred Lord Tennyson, das mit Bildern von „wildem“ Echo und „sterbendem“ Nachklang spielt. Ruihang Sun verfügt über eine schöne Stimme mit tenoralem Schmelz und Glanz, die ideal für leichte Mozart-Partien wie die des Ferrando in Così fan tutte geeignet ist, mit der er in einer Produktion der Hochschule für Musik Nürnberg im November 2017 debütierte. Und hier zeigt sich das Dilemma, denn für diesen Britten-Zyklus ist seine Stimme nicht geeignet. Das Werk kommt viel zu früh. In den Höhen wird die Stimmführung eng, sie klingen teilweise gepresst und angestrengt. Das fällt vor allem im vierten Lied Dirge auf, wenn der Gesang in jeder Strophe in einer hohen Lage beginnt und dann eine Oktave nach unten fällt. Diese Übergänge artikuliert Sun nicht sauber heraus, zumal er an seiner Textverständlichkeit noch arbeiten muss. Gerade die Lieder im alten Englisch verlangen eine präzise Deklamation, um den ohnehin schweren Text zu verstehen. Ohne Abdruck des Textes im Programmheft hat der Zuhörer an diesem Abend kaum eine Chance, den Text zu verfolgen. Lediglich im letzten Lied, dem Sonnet von John Keats, gelingt es Sun, etwas tenoralen Ausdruck in seine Interpretation zu bringen. Der Applaus für seine Darbietung ist eher verhalten, deutlich stärker für Anna Bauregger und ihrem Horn-Solo. Sun, der seit dem Wintersemester 2020 in der Meisterklasse von Susanne Kelling studiert, sollte sich bei zukünftigen Vorsingen auf seine Stärken fokussieren, die eher im Mozartfach als in zeitgenössischer Musik und Liedern liegen. Kleine Anekdote am Rande: Im Programmheft werden Benjamin Britten die Lebenszahlen 1756 bis 1791 zugeschrieben. Der Kenner weiß natürlich, das sind Geburts- und Todesjahr von Wolfgang Amadeus Mozart, Britten lebte von 1913 bis 1976.

Der Höhepunkt des Abends kommt zweifelsohne nach der Pause mit dem Konzert für Klavier Nr. 2 op. 18 in C-Moll von Sergei Rachmaninoff, komponiert in den Jahren 1900 und 1901. Uraufgeführt wurde es am 27. Oktober 1901 in Moskau unter der Leitung von Alexander Siloti, der Komponist spielte den Solopart. Gewidmet hat Rachmaninow das Werk dem russischen Neurologen Nikolai Dahl. Als Rachmaninow mit der Komposition des 2. Klavierkonzerts begann, hatte er eine schwere Schaffenskrise durchlebt. Im Oktober 1897 war dessen 1. Sinfonie in D-Moll sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik durchgefallen, eine Erfahrung, die dem jungen Komponisten hart zusetzte. Bis dahin von einem Erfolg verwöhnt, der wie im Alleingang dahergekommen war, fühlte er sich plötzlich außerstande, mit neuen Kompositionen an die Öffentlichkeit zu treten. Rachmaninow, für seine Schwermütigkeit bekannt, verfiel in Selbstzweifel und schließlich Depressionen. Seiner Verwandtschaft gelang es, ihn zu einer Therapie zu bewegen. Der Neurologe Dahl behandelte ihn erfolgreich mittels Hypnose. Rachmaninow schrieb hierüber später: „Ich hörte die gleichen hypnotischen Formeln Tag für Tag wiederholt, während ich schlafend in Dahls Behandlungszimmer lag. ‚Du wirst dein Konzert schreiben … du wirst mit großer Leichtigkeit arbeiten … Das Konzert wird von exzellenter Qualität sein …‘ Es waren immer dieselben Worte, ohne Unterbrechung. Auch wenn es unglaublich erscheint, diese Therapie half mir wirklich. Im Sommer begann ich zu komponieren. Das Material wuchs und neue musikalische Ideen begannen sich in mir zu regen.“

Rachmaninow hatte den zweiten und den dritten Satz des Konzerts zuerst fertiggestellt. Die Sätze wurden am 2. Dezember 1900 unter der Leitung von Alexander Siloti und mit Rachmaninow am Klavier der Öffentlichkeit vorgestellt. Schon diese Aufführung stieß trotz des fehlenden Kopfsatzes auf Begeisterung und einmütiges Lob. „Sein großes Talent hat schon seit langem nicht nur die Aufmerksamkeit in Russland auf sich gezogen, sondern auch im Ausland. Erst jetzt aber scheint es, als sei dieses Talent sich seiner inneren Kraft völlig bewusst und deshalb frei von dem früheren Zwang, außergewöhnlichen Effekten der Harmonik und Instrumentierung hinterherzulaufen. Die klassische Klarheit der Form, die Weite der Melodien, die Üppigkeit und Kraft der Harmonik zwingen uns, das Werk im echten Sinne des Wortes als bemerkenswert anzusehen“, schrieb Nikolai Kaschkin darüber. Das Konzert genießt bis heute eine große Popularität wegen seiner ganz der Romantik geschuldeten, liedhaft-melodiösen Themen. Selbst Rachmaninows 3. Klavierkonzert von 1909, das ähnlich angelegt ist, konnte ihm trotz großer Anerkennung nicht den Rang ablaufen.

Das Konzert als Abschluss einer Meisterklasse zu spielen, verlangt vom Pianisten nicht nur eine brillante Technik, sondern auch ein feines Gespür für die „russische Seele“ des Werkes. Beides bringt Patrik Hévr in überreichem Maße mit.

Anna Bauregger – Foto © O-Ton

Hévr – derzeitiger Stipendiat des Nürnberger Richard-Wagner-Verbandes – absolvierte zwischen 2009 und 2012 bei Martin Kasik in Prag sein Klavierstudium, das er in Nürnberg bei Wolfgang Manz fortsetzte und seinen Master mit Bestnote abschloss.  Er ist Preisträger in einer langen Reihe von nationalen und internationalen Klavierwettbewerben. Er musizierte unter anderem mit der Tschechischen Philharmonie, den Nürnberger Symphonikern und den Prager Symphonikern. Hévr erhielt wichtige musikalische Anregungen in Meisterkursen, darunter auch  vom tschechischen Klavier-Altmeister Ivan Moravec, der seinerseits – neben Martha Argerich und Maurizio Pollini – ein Schüler in der berühmten Klavierklasse von Arturo Benedetti Michelangeli war. Auch wenn der Vergleich zwischen dem Beethoven-Klavierkonzert im ersten Teil mit der Pianistin Eunjoo Kang und dem Klavierkonzert von Rachmaninoff mit Patrik Hévr sich verbietet, aber beide kommen aus derselben Meisterklasse von Wolfgang Manz, und der Unterschied zwischen den beiden Meisterschülern ist nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar. Hévr spielt mit dem Klavier, manchmal hat es den Anschein, als trete er in einen inneren Dialog mit dem Instrument. Meist die Augen geschlossen, taucht er tief in das Werk ein, atmet die russische Seele und meistert die technisch schwierigen und anspruchsvollen Passagen mit scheinbar müheloser Leichtigkeit. In der Einleitung des ersten Satzes kommen die Akkorde von beseelter Schönheit, wunderbar differenziert. Es entwickelt sich in der Folge ein harmonisches Miteinander mit dem Orchester, das in einem aufgewühlten Finale endet. Im raschen und leidenschaftlichen Mittelteil des zweiten Satzes, wo das Klavier dominiert, kann Hévr die ganze Bandbreite seines Könnens zeigen, nachdem er zuvor verträumt, ja, schon fast melancholisch das Adagio sostenuto gespielt hat, um am Ende des Satzes wieder in das verträumte Spiel zurückzufallen, als ob der Pianist seinen Frieden mit dem Klavier gemacht hat. Der dritte Satz mit dem burlesken Hauptthema wird zu einem wahren Feuerwerk an Emotionen. Hévr beherrscht den farben- und kontrastreichen Wechsel im Anschlag im piano wie im forte gleichermaßen ausdrucksstark. Das Finale mit großer Symphonik klingt schon fast wie eine Hommage an Tschaikowsky, das Hévr virtuos beendet. Ihm zuzuhören, aber auch zuzusehen, ist ein Genuss. Er wird bei seinem Konzert begleitet durch Sonja Lachenmayr, die den Masterstudiengang Orchesterdirigieren in Nürnberg bei Guido Johannes Rumstadt mit diesem Dirigat abschließt. Ihre charmante und kompetente kurze Einführung in das Werk zu Beginn ist Teil ihrer Masterarbeit und überschrieben mit dem Titel: „Durch die Krise zum Welterfolg.“ Lachenmayr dirigiert mit klarem Gestus, fordert das Orchester zu Höchstleistung, die es auch im Vergleich zum Beethoven-Konzert abliefert. Als der letzte Ton verklungen ist, hält es die knapp 300 Zuschauer in dem Musiksaal der Nürnberger Kongresshalle nicht mehr auf ihren Plätzen, sie springen auf und jubeln lautstark für eine herausragende und virtuose Darbietung von Patrik Hévr, die das großartige Dirigat von Sonja Lachenmayr mit einschließt.

Dieser Schluss versöhnt mit dem etwas zwiespältigen Eindruck des ersten Teils des Konzertes, und Hévr, da darf man wieder mit Wagner und Hans Sachs kommen, ist in der Tat ein wahrer Meister. Ihm ist es zu wünschen und zu gönnen, dass er seinen Weg mit seiner Kunst machen kann, die nicht nur technisch brillant ist, sondern auch die Zuhörer tief berührt.

Andreas H. Hölscher