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Fluch und Erlösung

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)

Gesehen am
30. Januar 2021
(Aufzeichnung vom 10. März 2020)

 

Metropolitan Opera New York

In Richard Wagners Der Fliegende Holländer darf der Holländer, ein von Satan verfluchter Kapitän, sein Schiff nur einmal alle sieben Jahre verlassen, um den Fluch zu brechen, der ihn dazu verurteilt hat, die Ozeane für alle Ewigkeit zu durchstreifen. Und irgendwie schien dieser Fluch auch über der Neuproduktion des Werkes an der New Yorker Metropolitan Opera zu liegen. Fast acht Jahre waren vergangen, seit der walisische Bassbariton Bryn Terfel das letzte Mal an der Metropolitan Opera gelandet war. Er sollte am 2. März 2020 in der Titelrolle der ersten Neuproduktion von Der Fliegende Holländer seit über drei Jahrzehnten zurückkehren. Aber welcher Fluch ihn auch immer so lange von der Bühne der Met abgehalten hat, er war offenbar noch nicht aufgehoben. Kurz vor Probenbeginn hatte sich Bryn Terfel bei einem Sturz in Spanien eine komplizierte Knöchelfraktur zugezogen und musste natürlich seine Teilnahme an der Produktion absagen. Terfel war zuletzt am 9. Mai 2012 in der Rolle des Wanderers in Wagners Siegfried in Robert Lepages viel diskutierter High-Tech-Inszenierung an der Met aufgetreten.

Die Suche nach einem gleichwertigen Ersatz gestaltete sich zunächst schwierig, war dann aber in dem Bassbariton Evgeny Nikitin gefunden, der schon häufiger an der Met zu Gast war. Bei diesem Namen klingelt es bei vielen Wagnerianern. 2012 sollte Nikitin als erster russischer Sänger die Rolle des Holländers bei den Bayreuther Festspielen übernehmen. Das hatten die künstlerische Leiterin der Festspiele, Katharina Wagner, und der Dirigent Christian Thielemann gemeinsam festgelegt.

Wenige Tage vor der Premiere sagte der Sänger seinen Auftritt jedoch ab, nachdem das ZDF in einem am 20. Juli 2012 ausgestrahlten Filmporträt der Kultursendung Aspekte unter anderem ältere Aufnahmen Nikitins als Heavy-Metal-Schlagzeuger gezeigt hatte, wo eine Brust-Tätowierung, die man als Hakenkreuz identifizieren könnte, zu sehen war. In einer ersten offiziellen Stellungnahme sagte Nikitin damals: „Mir war die Tragweite der Irritationen und Verletzungen nicht bewusst, die diese Zeichen und Symbole besonders in Bayreuth und im Kontext der Festspielgeschichte auslösen. Darum habe ich mich entschieden, auf meinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen zu verzichten.“ Später bestritt der Sänger sogar, jemals bewusst eine Hakenkreuz-Tätowierung getragen zu haben, indem er erklärte, dass das Stechen eines Tattoos ein langwieriger Prozess sei und die Konturen des in Rede stehenden Tattoos im Anfangsstadium lediglich einem Hakenkreuz geähnelt hätten. Dieser Tatsache habe er allerdings keinerlei Bedeutung beigemessen. Die Aufregung um Nikitin ist längst verraucht, so ist er seit Jahren regelmäßig Gast an der Bayerischen Staatsoper in München.

Nun sollte einer erfolgreichen Produktion des Holländers in New York nichts mehr im Wege stehen, zumal das längst überfällige Hausdebüt der Wagner-Heroine Anja Kampe auf dem Plan stand, auch wieder so eine Geschichte des amerikanischen Traumes, aus dem verschneiten Thüringer Wintersportort Zella-Mehlis, ihrem Geburtsort, an die große Metropolitan Opera New York. Und auch der Dirigent der Produktion, Valery Gergiev, sollte seinen „ersten Wagner“ an der Met seit mehr als 15 Jahren dirigieren. So war alles für ein großes Opernevent gerichtet, und viele Opernfreunde freuten sich auf den 14. März 2020, denn da sollte die Neuproduktion in vielen Kinos in HD-Qualität einem breiten Publikum präsentiert werden. Doch der Fluch blieb erhalten, diesmal in Form eines Virus namens „SARS-CoV-2“, der in Deutschland während des ersten Lockdowns zu einer bundesweiten Schließung der Kinos und Theater führte. Im März 2020 musste auch die Met die schwierige Entscheidung treffen, den Rest der Saison 2019/20 abzusagen, um Publikum, Darsteller und Mitarbeiter vor der COVID-19-Pandemie zu schützen. Die Entscheidung bedeutete auch, die „Live in HD-Saison“ vorzeitig zu beenden, nur wenige Tage vor der geplanten Übertragung der Neuproduktion des Fliegenden Holländer.

Glücklicherweise wurde im Rahmen der regelmäßigen Vorbereitungen für eine HD-Sendung eine vorherige Aufführung der Oper als Kameraprobe, einem so genannten „Scratch Taping“ aufgezeichnet. Diese Aufnahme erwies sich qualitativ als so hochwertig, dass die Aufzeichnung nun auch im Stream der Metropolitan Opera einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden konnte.

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Regisseur François Girard, dessen aufschlussreiche Version des Parsifal aus dem Jahr 2013 den jüngsten Met-Standard für Wagner-Inszenierungen gesetzt hat, enthüllt nun eine neue Sichtweise auf den Holländer, ohne sich dabei vom Original zu entfernen. Es sind mehr die modernen technischen Möglichkeiten, die diese Opernaufführung zu einem bildgewaltigen Kinoerlebnis im Stile Hollywoods machen. Zusammen mit dem Bühnenbildner John Macfarlane hat Girard für die Met-Bühne eine reichhaltige, umfassende Ästhetik dunkler, aber subtil schattierter Tableaus geschaffen – mondhelle Wolkenlandschaften, purpurrote Sonnenuntergänge und ein handgemaltes, bühnenfüllendes Bild eines gespenstischen Auges, das als das Porträt des Holländers wirken soll und bereits sichtbar ist, wenn das Publikum die Plätze einnimmt. „Wir vervollständigen den goldenen Proszenium-Bogen der Met an der Unterseite, sodass das Publikum ein großes gerahmtes Gemälde sieht. Wenn der Vorhang aufgeht, betreten wir ihn genauso wie Senta“, sagt Regisseur Girard. Er sieht den Holländer aus der Sicht Sentas. „Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die so besessen von einem Bild ist, dass sie irgendwann davon verschluckt wird“, erklärt er. Der Regisseur, ebenfalls ein erfolgreicher Filmemacher, sagt, dass das Filmemachen „ständig Bildbesessenheit hervorruft“, damit er sich mit der Verliebtheit der jungen Frau identifizieren kann. Auch die jenseitige Natur des Holländers erhält eine einzigartige visuelle Darstellung in der Schaffung eines virtuellen Schattens. Girard schafft es mit diesem Kunstgriff, den Charakter als übernatürlich darzustellen, ohne auf eines der gängigen Klischees zurückzugreifen. Während der Holländer sich bewegt, trägt er einen live erzeugten Schatten mit sich, der von einem Tänzer hinter der Bühne ausgelöst wird, der jede Geste des Sängers nachahmt. Dieser Effekt wird durch die Musik natürlich noch verstärkt. Das einzig echte Bühnenbild ist der Bug des Schiffes von Daland, alles andere ist gemalt oder wird durch das perfekt abgestimmte Lichtdesign von David Finn und der Projektionsregie von Peter Flaherty suggeriert. Im zweiten Aufzug gibt es keinen großen Wechsel des Bühnenbildes, lediglich der Schiffsbug verschwindet und von der Decke werden Dutzende Seile oder Schiffstaue herablassen. Der Chor der Spinnerinnen ist hier im Bewegungsablauf tänzerisch choreografiert, gleiches gilt im Übrigen für den Matrosenchor. Carolyn Choa hat diese Choreografie mit dem Chor einstudiert. Die Bewegungen der Frauen, die das Garn spinnen, werden dadurch vergrößert.

Jede Sängerin oder Tänzerin hält ein dickes Seil, das im Flugraum über der Bühne verschwindet, und während Senta ihre Ballade singt, verflechten sie sie langsam, um ein riesiges symbolisches Muster zu bilden. Girard arbeitet eng an der Wagnerschen Partitur und bezieht in seine Recherchen auch die autobiografisch erzählte stürmische Seefahrt Richard Wagners 1839 von Riga nach London, die ihn nachdrücklich zu der Bearbeitung dieses Stoffes animiert hat, mit ein. Im Rahmen ihrer Arbeit, um zum Aussehen ihrer Produktion zu gelangen, untersuchten Girard und sein Kreativteam die felsige Landschaft der norwegischen Küste um Sandwike und erforschten die Kleidung ihrer Bewohner in der Zeit von Wagners Besuch. So sind die Kostüme von Moritz Junge der Zeit der Uraufführung des Holländers angepasst, der Holländer, Daland, Erik und die Matrosen sind alle ganz dunkel gekleidet, die Frauen tragen cremefarbene, ländliche Kleider, lediglich Senta hebt sich mit ihrem knallroten Kostüm von den Einheitsfarben auf der Bühne ab.

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Für Girard ist dieses Werk eine Oper mit dramatischem Stoff im herkömmlichen Sinn, dass die Jenseits-Sucht von Holländer und Senta erörtert. Und so steht ein Psychogramm zweier zerstörter Seelen im Vordergrund der Inszenierung. Einerseits der Holländer, der sich nach dem Tod, dem Nichts, als Erlösung sehnt, und auf der anderen Seite Senta, die in ihrer Seelenverwandtschaft zum Holländer das Gleiche sucht und mit ihm eine Schicksalssymbiose eingeht. Senta beschwört in ihren seelischen Abgründen den Holländer hervor, der sich nach dem Ende, der Annihilation, dem Nichts sehnt. Für Senta ist dieses Sehnen nach dem Unendlichen heroisch und tragisch zugleich, und in letzter Konsequenz erlöst sie den Holländer am Schluss, indem sie mit ihm hinter dem Chor ins Nichts verschwindet. Während die opulenten, fast gemalten Bilder die Inszenierung bestimmen, ist Girards Personenregie dafür eher spärlicher, da spielt sich doch vieles gesanglich ohne große Interaktion ab. So ist vieles mehr Rampengesang mit gestellten Gesten, die optisch größte Wirkung hat hier eindeutig die Szenerie auf der Bühne. Es ist nicht nur ein Abend der imposanten Bilder, es ist auch musikalisch und sängerisch eine Sternstunde Wagnerschen Gesangs. Mit dem Ausdruck der zerstörten, nach Erlösung suchenden Seele legt Evgeny Nikitin die Gestaltung des Holländers an. Mimik und Gestik zeigen die innere Zerrissenheit der Figur. Sein Auftrittsmonolog Die Frist ist um im ersten Aufzug besticht durch ein kräftiges Fundament in der Tiefe und starken Höhen in den dramatischen Ausbrüchen. Sein Ausdruck und sein Gestus bei seiner ersten Begegnung mit Senta sind von einer derartigen Intensität, dass die Qualen, von denen er singt, förmlich sichtbar werden. Das große Duett mit Senta im zweiten Aufzug ist der sängerische Höhepunkt der Aufführung, die beiden Stimmen scheinen fast zu verschmelzen, denn in Anja Kampe hat Nikitin die ideale Senta an seiner Seite. Ihr hochdramatischer Sopran ist von einer unnachahmlichen Leuchtkraft geprägt. Überzeugend ist ihre dramatische Stimmführung, in der Ballade im zweiten Aufzug wechselt sie vom zärtlichen Piano in furienhafte Ausbrüche, und im großen Duett mit dem Holländer harmoniert ihre Stimme mit Nikitin so wunderbar, dass die Seelenverwandtschaft der beiden Figuren auch gesanglich zum Ausdruck kommt. Für Kampe ist es ein mehr als gelungenes Hausdebüt an der Met. Franz-Josef Selig gibt den Daland, der für Reichtum sogar seine Tochter verkauft, mit wohltönendem Bass und großer Textverständlichkeit. Sergey Skorokhodov in der Partie des Erik zeigt, dass er die Kraft für einen jungen Heldentenor hat. Seine Cavatine im dritten Aufzug intoniert er mit großer Leidenschaft. David Portillo überzeugt als Steuermann mit kultiviertem Charaktertenor. Sein Auftrittslied im ersten Aufzug zeigt Durchschlagskraft und lyrische Qualität zugleich und versprüht dabei Spielwitz und Charme. Mihoko Fujimura ist eine Mary mit resolutem Mezzosopran und starker physischer Präsenz.

Der Chor der Metropolitan Opera ist hervorragend eingestimmt und begeistert durch saubere Intonation und Intensität. Insbesondere die Tenöre, die im Steuermannchor so dominant sein müssen, sind stark präsent. Auch der Damenchor präsentiert sich vorzüglich, und neben der großen Spielfreude beeindruckt auch die Textverständlichkeit der deutschen Sprache, was man nicht so erwarten würde. Das Orchester der Metropolitan Opera überzeugt durch eine beeindruckende Klangmalerei, aus der die Bläser dominant sauber hervorragen.  Die Ouvertüre in der Konzertfassung ist dramatisch kraftvoll und dynamisch, das Holländer-Motiv ist stark akzentuiert, während das Senta-Motiv eher zart und verletzlich klingt. Valery Gergiev leitet das Orchester der Metropolitan Opera mit großem Engagement. Er wechselt klug die Tempi und begleitet die Sänger, besonders im großen Duett Holländer – Senta, mit Fingerspitzengefühl.

Diese Inszenierung, vor allem auch in dieser Besetzung, ist ideal geeignet, um Menschen erstmals mit Wagner in Berührung zu bringe und für altgediente Wagnerianer einfach nur zum Genießen. Man kann nur hoffen, dass die Inszenierung, wenn denn auch die Metropolitan Opera wieder öffnen darf, dann auch wieder in deutschen Kinos gezeigt wird.  Ein Kinobesuch, der sich allemal lohnen würde.

Andreas H. Hölscher