O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marco Piecuch

Aktuelle Aufführungen

Psychogramm eines Irren

WOYZECK@WHITEBOXX
(nach Georg Büchner)

Besuch am
3. Dezember 2021
(Premiere am 5. November 2021)

 

Rheinisches Landestheater Neuss, Studio

Die Idee war und ist gut. Vor einigen Jahren löste das Rheinische Landestheater Neuss Abendzettel und Programmhefte mit einer einzigen Karte ab, auf der es ein paar Grundinformationen und einen Barcode gab. Das sparte eine Unmenge von Papier, und plötzlich waren dem Informationsfluss keine Grenzen mehr gesetzt. In der Grundidee. In der praktischen Ausführung stellte sich heraus, dass die Aufbereitung im Internet sehr arbeitsintensiv war. Und so gab es dort alsbald auch nicht viel mehr als die üblichen Informationen, die dort ohnehin aufgeführt wurden. Jetzt hat das Theater die Idee neu aufgegriffen. Allerdings führt der Barcode jetzt nicht mehr auf eine einzelne Seite, sondern zu einem „digitalen Programmheft“. Wer an das Programmheft aus Papier mit all seinen grafischen Möglichkeiten denkt, wird von diesem Format enttäuscht sein. Hier gibt es jetzt Textwüsten, unter denen ein paar Bilder eingestellt sind. Trotzdem stimmt der Weg. Einem immensen Papieraufwand wird der Riegel vorgeschoben, und zumindest das jüngere Publikum fühlt sich in der Rezeption eher angesprochen. Man wird sehen, wie sich der zweite Anlauf weiterentwickelt. Das Publikum des heutigen Abends jedenfalls wird mit dieser Lösung sehr zufrieden sein. Denn hier sieht man überwiegend jugendliche Gesichter.

Inszenierungen im Keller des Theaters, wo ein Studio eingerichtet ist, waren in der Erinnerung immer besondere Höhepunkte. Dass sie inzwischen den Zusatz „@whiteboxx“ erhalten haben: geschenkt. Wenn die Marketingabteilung glaubt, damit irgendeinen Zusatznutzen zu vermitteln, sei ihr das gegönnt, Hauptsache, es finden dort weiterhin ungewöhnliche Produktionen statt, die vor allem junge Leute ansprechen. Obwohl Woyzeck@Whiteboxx schon vor einem Monat Premiere hatte, ist die Aufführung sehr gut besucht. Saß man hier immer schon so nah beieinander? Vermutlich. Aber derzeit ist Nähe ja nicht unbedingt, was man bei einem Theaterbesuch genießt. Immerhin behalten die Menschen ihre Masken auf.

Katharina Kummer hat sich des Fragments von Georg Büchner aus dem Jahr 1836 angenommen, das sich mit dem Soldaten Franz Woyzeck und dem Mord an seiner Freundin Marie auseinandersetzte. Sie ist damit durchaus kein Einzelfall. Woyzeck gehört zu den heute meistgespielten und -gesungenen Dramen der deutschen Literatur. Gibt es also noch etwas Neues zu entdecken? Kummer inszeniert ein Solo für drei. Bei Betreten des Raums liegt die Szenerie bereits offen da. Julia Bosch hat die Studiofläche durch drei weiße Bretterwände begrenzt, in denen drei Ausgänge nach hinten zusätzliche Abgänge ermöglichen. Auf der Fläche sind ein Stuhl, im Hintergrund ein paar Kisten und ein Stativ mit einem Schneiderkopf untergebracht. Ein Schauspieler sitzt bereits mit einem Buch in der Hand auf dem Stuhl. Außerhalb der Wände sitzen die beiden, die das Solo ergänzen: rechts eine junge Dame mit Reclam-Heft, dessen Lektüre sie offenbar immer mal wieder erheitert, links ein junger Herr, neben dem ein E-Piano steht. Bosch ist auch für die Kostüme zuständig. Die Herren in Weste und Hose, die Dame trägt Bluse und Hose. Kummer erkennt darin Bekleidung aus der Zeit der Roman-Entstehung. Wichtiger ist, dass sie versucht, jede Handlung zu unterlaufen. Indem der Hauptdarsteller auf weitere Personen verweist und ansonsten alle Rollen in sich vereint, verdichtet die Regisseurin das Psychogramm eines „Wahnsinnigen“. Das bereitet anfänglich für die Zuschauer erhebliche Orientierungsschwierigkeiten, was sich aber im Fortgang des Abends verflüchtigt.

Niklas Maienschein vollbringt eine wahre Meisterleistung. 75 Minuten Text, dabei immer wieder in Textbücher zu schauen, ohne ins Stottern zu geraten, zahlreiche, richtig gute Regie-Einfälle beachten und sich zwischendurch zu schminken, mit Ohrringen und Kopfschmuck zu behängen und über und über mit Blut zu beschmieren – das ist ein Kraftakt. Maienschein wirkt dabei so „irre“ wie nur möglich. Grandios. Nelly Politts Rolle ist zunächst vollkommen undurchschaubar. Reicht sie anfangs Requisiten an, steht sie später bedeutsam herum. Der Höhepunkt ihres Auftritts liegt in der Präsentation des „Monsters“, das Moran Sanderovìc als Kostüm entwickelt hat, die einzige Figur, der Woyzeck so etwas wie Zärtlichkeit entgegenbringen kann. Neben dem Auftritt des Arztes ein eindeutiger Höhepunkt des Abends. Johannes Bauer spielt Mozart auf, um die tänzelnden Schritte des Arztes zu unterstreichen, der leichtfüßig die Forschung voranbringen will. Der Einfall ist so gut, dass der Erbsbrei-Versuch fast untergeht. Und Bauer gibt Michael Jackson auf der E-Gitarre, während er als Freund Andres auch immer wieder versucht, dem zunehmend verwirrteren Woyzeck zur Seite zu stehen. Insgesamt übertreffen die darstellerischen Leistungen in ihrer Wirkung noch die Absichten der Regisseurin.

Die medizinkritische Sicht über die sozialkritische zu stellen, die sonst gerne dargestellt wird, ist eindeutig neu. Und auch wenn bezweifelt werden darf, ob die Zuschauer die Intention erkannt haben, ist das Publikum begeistert ob der darstellerischen Leistung. Nicht erst heute Abend fällt auf, dass der Applaus immer schwerer zu fallen scheint. Die Kräfte des Publikums scheinen nachzulassen. Nach eineinviertel Stunden sind die Zuschauer erschöpft, aber, wie am Ausgang zu hören ist, tief beeindruckt. Ein Phänomen, das es nicht nur in Neuss gibt, aber bedenklich stimmt.

Michael S. Zerban