O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Streicher-Rausch

VERKLÄRTE NACHT
(Grigori Frid, Arnold Schönberg)

Besuch am
5. Juni 2021
(Premiere am 5. Juni 2021)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss, Stadthalle Neuss

Früher war das so: Da saß die Deutsche Kammerakademie Neuss dicht gedrängt auf der Bühne des Zeughauses, dem Konzertsaal der Stadt Neuss, vor einem Haus, das bis auf den letzten Stuhl besetzt war. Es gab irgendein Programm aus dem üblichen Konzertkanon, das nannte man Abonnementkonzert. Wirklich wichtig war eigentlich mehr die Pause, weil es da Schwätzchen und Alkohol gab. Und nach einem „erbaulichen“ Abend begab sich das überwiegend ältere – oder seien wir ehrlich: alte – Publikum so zufrieden nach Hause, dass es gleich sicherstellte, das nächste Abonnement zu bestellen. Ein beglückender Umstand für die Veranstalter, die für die einzelnen Konzerte nur noch ein paar Einzelkarten zu verkaufen hatten. Ob es das Konzertwesen weiterbrachte, konnte man diskutieren.

Isabelle van Keulen – Foto © O-Ton

Nach nahezu anderthalb Jahren Abstinenz hat sich manches geändert, eines ist geblieben. Zum dritten Abonnementkonzert, das ursprünglich in der ersten Februarwoche geplant war und nun endlich stattfindet, fahren die alten Leute vor. Die einen mit Autos, die anderen mit Rollatoren. Klar, sie sind ja diejenigen, die als erste geimpft wurden, um nun furchtlos wieder dem Konzertsaal zuzustreben. Ach nein, das war ja, um sie vor den jungen Infektionsträgern zu schützen. Aber die Veranstalter dürfen sich darüber besonders freuen, denn sonst wäre der Saal heute Abend leergeblieben. Und das wäre besonders schade. Denn ein Konzert zu organisieren, ist in diesen Zeiten ein schwindelerregender Arbeitsaufwand, der wohl nur damit zu motivieren ist, dass man irgendwann wieder zum Routine-Betrieb zurückkehren kann. Das beginnt damit, dass die Türen zur „guten Stube“ verschlossen bleiben. Ein Konzert ist überhaupt nur in der überdimensionierten Stadthalle möglich. Die ist aber nicht auf Konzertbetrieb eingerichtet, sondern kann allenfalls darauf eingerichtet werden. Und das ist außerordentlich schwierig, wenn die Besucher die gemütliche Atmosphäre des Zeughauses gewohnt sind. Aber die Deutsche Kammerakademie Neuss hat sich unglaublich ins Zeug geschmissen. Wer die Karten an der Kartenausgabe abgeholt hat, wird auf das Freundlichste in der „Schleuse“ empfangen. Schnell hat sich dort mit dem überaus freundlichen Personal statt lästiger Formalitätenabfrage ein nettes Gespräch entwickelt. Kompliment an die Damen, die hier einen großartigen Job erledigen. Im Saal sind die Stuhlreihen neu ausgerichtet und beschriftet – so leicht hat man hier noch nie seinen Platz gefunden. Zusätzlich wurden Stuhl-Stulpen angeschafft, die anzeigen, wo man sich nicht hinsetzen darf, ohne dass irgendwelche Absperrseile oder gar Flatterbänder die Laune verderben. Das sieht edel aus, und wer danach das Logo der Deutschen Kammerakademie Neuss nicht kennt, muss blind sein. Wunderbar und liebevoll gelöst. Hier hat sich wirklich jemand Gedanken gemacht, wie die Besucher sich trotz der Umstände wohlfühlen können.

Dass an diesem Abend viele Plätze frei bleiben, kann viele Gründe haben. Am Nachmittag gab es bereits die Premiere. Es gibt Fußball und eine Schlagerparade im Fernsehen, und über das grauenhafte Wetter soll hier wirklich nicht die Rede sein. Am Programm wird es sicher nicht liegen. Denn mit Grigori Frids Konzert für Viola, Klavier und Streichorchester op. 73 und Arnold Schönbergs Kassenschlager Verklärte Nacht op. 4 zeigen die Streicher des Nachwuchs-Orchesters, dass sie auch beim Programm Fantasie entwickeln können. Ein beglückendes Gefühl.

Isabelle van Keulen, die als Künstlerische Leiterin heute auch die musikalische Leitung des Orchesters innehat, nimmt sich vor dem Konzert, ganz ungewöhnlich, aber schön, die Zeit, ein paar Worte der Einführung zu finden. Auch Oliver Triendl, der gleich am Klavier sitzen wird, sagt einen kleinen Text auf. Das kennt man nicht, aber es ist eindeutig wiederholbar. Da haben die jungen Musiker bereits unter Applaus auf der Bühne Platz genommen. Bei aller Mühe, die die Organisatoren auf sich genommen haben, wundert es ein bisschen, dass es auf der Bühne keinen Platz für ein paar Blumen gab und für mehr als eine Standardbeleuchtung nicht reicht. Die beinhaltet überdies, dass das Saallicht nur um die Hälfte gedimmt wird. Das irritiert und nimmt Konzentration, ist aber nach Aussage des Veranstalters aus Sicherheitsgründen notwendig, weil es im Saal einige Stufen gibt.

Oliver Triendl – Foto © O-Ton

Auf der Bühne gibt es eine ungewöhnliche Konstellation, die nichts mit Sicherheit zu tun hat. Oder indirekt vielleicht schon. Triendl sitzt nämlich mit dem Rücken zum Publikum. Und wer sich als Musiker auf das Streichkonzert einlässt, weiß natürlich, dass man hier mit einem Dirigierstab nicht weiterkommt. Um die Stärke dieses Konzerts entwickeln zu können, kommt es hier auf direkten Augenkontakt zwischen Bratsche und Klavier an. Ja, da gibt es das Orchester, das mit Streichflächen mal spannende, düstere Momente hervorruft, mal treten die Geigen gegen den Rest des Orchesters an, aber wo es wirklich stark wird, das sind die Momente, in denen sich zwischen Klavier und Bratsche Dialoge entwickeln. Nein, es sind nicht Mozart, Schubert oder Beethoven – es elektrisiert auf andere Weise. Diese unmittelbare Ansprache, Auseinandersetzung, ständig untermalt mit einem Sirren, hält die Dramaturgie über drei Sätze. 1985 erlebte das Werk seine Uraufführung durch das Kammerorchester der Moskauer Philharmonie, kann sich in der Konzertwelt vollkommen ungerechtfertigt nicht durchsetzen. Denn in der intensiven Präsentation der Kammerakademie wird vollkommen klar, dass man das viel häufiger hören möchte.

Wer Arnold Schönberg auf einem Programmzettel liest, reagiert mit Vorsicht. Das ist nämlich der mit der Zwölfton-Technik, die so viel Leid in der Komposition nachfolgender Generationen gebracht hat. Zumindest aus Sicht des Publikums. Seine Verklärte Nacht allerdings zählt zu den gern gehörten Werken. Es basiert auf dem gleichnamigen Gedicht von Richard Dehmel – auch hier zeigt sich noch einmal die insgesamt liebevolle Vorbereitung des Konzerts, denn die Besucher finden das Gedicht als Beilage zum Programmheft – und ist um eine musikalische Umsetzung der poetischen Vorlage bemüht. „Die im Streicherklang schimmernde, oft sehr expressive, aufgewühlte und harmonisch delikate Musik führt vom schwermütigen Moll-Beginn zur seligen D-Dur-Verklärung der Schlusstakte“, beschreibt Matthias Corvin, Autor der Programmhefte der Kammerakademie, treffend den Verlauf des Konzerts, das von der Zwölf-Ton-Technik noch weit entfernt ist. Auch wenn die Verklärte Nacht zu den Publikumslieblingen gehört, ist es an diesem Abend doch das Streichkonzert von Frid, das die Menschen viel mehr beschäftigt. Denn ganz offenbar löst es in der überragenden Interpretation des 20-köpfigen Orchesters viele Assoziationen zum vergangenen Jahr aus. Ja, auch das ist gleichgeblieben im Vergleich zu früher. Musik löst etwas in uns aus. Selbst dann, wenn sie noch keine 200 Jahre abgehangen ist. Ein gutes Signal für die Kammerakademie, für die Isabelle van Keulen vielleicht ein Profil schaffen könnte, das über den Kanon des Konzertbetriebs hinausgeht. Wie zum Beispiel an diesem sicher unvergesslichen Konzertabend.

Michael S. Zerban