O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marco Piecuch

Aktuelle Aufführungen

Ohne Lust am Spiel

DER TRAFIKANT
(Robert Seethaler)

Besuch am
22. April 2022
(Premiere)

 

Rheinisches Landestheater Neuss, Großer Saal

2012 erschien der Roman Der Trafikant. Robert Seethaler erzählte von Franz Huchel, der aus dem Salzkammergut 1937 nach Wien kommt, um dort bei dem Trafikanten Otto Trsnjek – im Rheinland würde man heute von einem Büdchenbesitzer sprechen – in Stellung zu gehen. Der 17-Jährige soll das Handwerk von der Pike auf lernen. Der muss allerdings auch mit seinen Hormonen zurechtkommen. Dabei behilflich soll ihm einer der Stammkunden in der Trafik sein – niemand Geringeres als Sigmund Freud kommt regelmäßig in den Laden, um seine Zigarren einzukaufen. Franz, der in regem Briefkontakt mit seiner Mutter steht, lernt Anezka kennen, eine Liebesnacht bleibt allerdings ohne Konsequenzen. Derweil nimmt der Einfluss der Nationalsozialisten in Wien zu, Trsnjek fällt ihnen zum Opfer. Auch Freud gerät immer weiter in Bedrängnis, seine Flucht nach London wird vorbereitet. Erst nachdem Franz heftig insistiert, erfährt er, dass der Trafikant tot ist. Das Buch wird von der Kritik hochgelobt. Ende 2017 verfilmt Nikolaus Leytner den Stoff mit Simon Morzé als Franz und Bruno Ganz als Sigmund Freud. Es wird eine typische Literaturverfilmung, in der Leytner nicht an der Ausstattung spart. Viel Detailfreude und eine dichte Atmosphäre sorgen dafür, dass der Film ein Schmuckstück wird, von den großartigen Darstellern ganz abgesehen. Er ist derzeit in der ARD-Mediathek zu bestaunen.

Auch für die Bühne wurde das Werk schon verschiedentlich bearbeitet. Jetzt hat Maik Priebe eine eigene Fassung geschrieben, die er am Rheinischen Landestheater Neuss inszeniert und dabei auch gleich Bühnen- und Kostümbild übernommen hat. Die Besucher im nicht annähernd voll besetzten Großen Saal bekommen ein statisches Bühnenbild zu sehen. In der Bühnenmitte sind Stofflagen im „Lumpenlook“ übereinandergeschichtet und bilden so eine Art Sparring-Raum mit unsicherem Boden. Nach hinten wird diese Spielfläche mit einem Paravent abgeschlossen. Rechts und links gibt es jeweils drei Stühle, ein paar Mikrofone und jede Menge Requisiten. Die Darsteller sind einheitlich in Schwarz gekleidet. Die Mutter bekommt eine Schürze, Sigmund Freud erst einen Hut, später nur noch einen angeklebten Bart und das fehlende Bein des Trafikanten wird dadurch angedeutet, dass das eine Hosenbein hochgezogen wird. Priebe versucht erst gar nicht, eine bestimmte Atmosphäre wie etwa in der Trafik oder im Nachtclub aufzubauen. Gespielt wird so gut wie gar nicht. Die Liebesnacht von Franz und Anezka gerät so zu einem pubertären Gerangel. Stellungswechsel werden bevorzugt vollzogen, um die Darsteller für ihren nächsten Texteinsatz zu positionieren. Der besondere Regie-Einfall ist, dass die Darsteller auch als Geräuschemacher fungieren. Mit dem Nachteil, dass erst die Geräusche zu leise sind, später die Darsteller kaum zu verstehen sind. Auch die musikalischen Einsprengsel von Stefan Leibold wirken akustisch mitunter unausgewogen. Davon abgesehen gilt für Priebe: Volle Konzentration auf den Text. Schlösse man von Anfang bis Ende die Augen, hätte man den Abend vollständig erfasst. Aber geht man ins Theater, um ein Hörspiel geboten zu bekommen?

In der Nacherzählung finden sich alle wesentlichen Zitate des Romans wieder. Und die Anforderungen an die Sprechleistungen der Darsteller sind dementsprechend hoch. Zudem werden die Akteure immer wieder an die Grenzen ihrer Sprechgeschwindigkeit geführt, um die Textmenge in knapp anderthalb Stunden unterzubringen. Da fällt es auf den höhergelegenen Plätzen der Tribüne mitunter schwer, die Texte zu verstehen. Obwohl die Sprecher hier zweifelsohne gewaltige Leistungen vollbringen. Hergard Engert übernimmt die Mutter und Sigmund Freud und dürfte damit den größten Anteil des Textvolumens auf sich vereinen. Das gelingt, weil sie ansonsten wenig zu tun hat. Trotzdem fällt es schon schwer, den Bart immer wieder richtig anzukleben. Anezka fällt bei Nelly Pollitt eindeutig hinter die Vielschichtigkeit der Rolle zurück. Ohne Film und Theaterstück auch nur annähernd vergleichen zu wollen, zeigt Emma Drogunova, was bei Anezka alles möglich wäre. Und damit sind nicht einmal die Nacktszenen gemeint. Ähnliches gilt für Franz. Philippe Ledun ist für die Rolle überzeugend gewählt und zeigt sich ausgesprochen textsicher. Gern hätte man ihn mehr spielen sehen. Als Trafikant schlägt sich Stefan Schleue sehr gut. Bei ihm sieht Priebe weniger die Schlitzohrigkeit im Vordergrund als seine Liebe zu Zeitungen und Zigarren. Einverstanden. Peter Waros als Erzähler kommt die Rolle zu, sprachlich wenigstens ein bisschen Sprachkolorit einzubringen, das Pollitt als böhmisches Mädel schuldig bleibt.

Das Publikum ist von der sprachlichen Leistung offenbar beeindruckt und applaudiert nachhaltig. Wer Nacherzählungen auf der Bühne liebt, ist beim Trafikanten sicher gut aufgehoben. Wer der Auffassung ist, dass die Bühne ein Spielort ist, sollte sich den 27. April vormerken. Dann feiern in Neuss die Lichter der Großstadt ganz ohne gesprochenen Text Premiere.

Michael S. Zerban