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Aktuelle Aufführungen

Erfrischend anders

TABULA RASA
(Wolfgang Amadeus Mozart, Arvo Pärt, Béla Bartók)

Besuch am
16. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss im Zeughaus Neuss

Wenn die alten Römer ihre Wachstafeln vollgeschrieben hatten, schabten sie sie ab, um auf der neugeschaffenen glatten Oberfläche weiterzuschreiben. Sie hatten dann eine Tabula rasa, eine abgeschabte Tafel. Ein schönes Bild für die Redewendung „Tabula rasa machen“, die sich über die Jahrhunderte erhalten hat. Bis heute versteht man darunter, einen radikalen Neuanfang zu schaffen, das Alte gründlich beiseite zu räumen. Und das gilt ein Stück weit auch für das Konzert mit dem Titel Tabula rasa, zu dem die Deutsche Kammerakademie Neuss heute am frühen Abend in das Zeughaus Neuss eingeladen hat. Zur Erinnerung: Das Zeughaus ist so etwas wie der Konzertsaal der Stadt. Und wenn die Deutsche Kammerakademie dorthin einlädt, ist der Saal auch bis auf den nahezu letzten Platz besucht.

Amane Horie – Foto © O-Ton

Chefdirigent Christoph Koncz macht tatsächlich so etwas wie Tabula rasa. Das beginnt damit, dass nicht das Orchester zuerst das Podium betritt, sondern Koncz zunächst allein mit einem Mikrofon auf der Bühne erscheint. Er ist sich des ungewöhnlichen Vorgangs bewusst und weist schnell daraufhin, dass es keine schlechten Nachrichten gebe. Stattdessen, welch ein ungewöhnlicher Vorgang in einem deutschen Konzertsaal, begrüßt er das Publikum. Um ihm anschließend zu erklären, was in den nächsten 100 Minuten passiert. Das muss man nicht, wenn man das übliche Repertoire abspult, weil man davon überzeugt ist, dass man dem Publikum nichts anderes zumuten darf. Aber die Kammerakademie hat sich entschieden, ein Programm anzubieten, das man üblicherweise nicht zu hören bekommt. Das kann das Nachwuchsorchester, weil es längst ein Urvertrauen zu seinen Hörern aufgebaut hat, die vermutlich auch dann noch in den Konzertsaal strömten, wenn im Vorfeld überhaupt kein Programm bekanntgegeben würde. Und so erzählt Koncz wohlvorbereitet, kurz und knapp, warum es sich lohnt, dem kommenden Konzert seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist, schlicht ausgedrückt, großartig. Und so viel sei bereits verraten: Viele der Menschen, die sonst ihr Nickerchen zu den Klängen des Streichorchesters verrichten, sitzen an diesem Abend ganz weit vorn auf der Stuhlkante.

Dabei will Koncz auch an einem solchen Abend nicht auf „seinen“ Mozart verzichten. Und so steht auf dem Programm die Serenade Nr. 6 in einem, wie der Dirigent sagt, eleganten D-Dur. Die Serenata Notturna hat das Wolferl mit 20 Jahren komponiert. Da hat er bereits mehr als sein halbes Leben damit zugebracht, Musik zu schreiben. Es ist also alles anderes als ein Frühwerk. Interessant an diesem Stück ist, dass er Orchester gegen Orchester spielen lässt. Zu einem kleinen Streichorchester mit Pauken tritt ein Quartett in ungewöhnlicher Besetzung hinzu. Moritz Ter-Nedden und Amane Horie als Geiger, Danka Nikolic an der Bratsche und Vilmos Buza nicht etwa am Cello, sondern am Kontrabass. Das Publikum ist begeistert von Marsch, Menuett und Rondeau der Abendunterhaltung, nichts anderes ist eine Serenata, die eigentlich 1776 als „Gebrauchsmusik“ entstand, also für eine Abendgesellschaft geschrieben wurde. Schön, dass sie der Nachwelt erhalten blieb.

Christoph Koncz – Foto © O-Ton

Durchaus Größeres hatte Arvo Pärt im Sinn, als er 1977 sein zweisätziges Werk Tabula rasa schuf. Hier bekommen die Besucher die Stilistik zu hören, die den Komponisten weltberühmt machte und den Namen Tintinnabuli erhielt. Eine oder zwei Stimmen werden dabei von einem Dreiklang umspielt, der den Charakter eines Glockenklangs erhält. Dazu braucht es neben zwei Streichersolisten, an diesem Abend sind das Yamen Saadi und Raimund Lissy, auch ein präpariertes Klavier, dem Antonis Anissegos Hellklingendes entlockt. Das Werk ist in zwei Sätze aufgeteilt. Im ersten Satz Ludus, also Spiel, geht es tatsächlich eher spielerisch in wellenförmigen Bewegungen zu, während im zweiten Satz Silentium zwar kein Schweigen entsteht, aber eine tiefe, innere Ruhe verströmt, die, so erzählt Koncz, die Musiker annähernd in Trance versetzt. Im Gegensatz zur Uraufführung, von der der Komponist Erkki-Sven Tüür berichtet, dass am Ende niemand anfangen wolle zu klatschen, scheinen die Besucher im Zeughaus eher dem Ende der Stille entgegenzufiebern, um dem so ungewöhnlichen wie hervorragenden Vortrag Applaus zu zollen.

1936 schuf Béla Bartók sein Werk Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, ein viersätziges Konglomerat aus Stilrichtungen, das mit dem ersten Satz an die ruheverströmende Musik Pärts anzuknüpfen scheint, ehe die Vielzahl der Instrumente, darunter die Celesta, an der Agnieszka Skorupa glänzt, im Allegro für eine Lebhaftigkeit sorgt, die im Finale wieder aufscheint, nachdem der dritte Satz mit dem solistisch eingesetzten Xylofon für ungewöhnliche Klangfarben sorgt. „Wir konnten damals noch nicht ahnen, dass uns ein wahres Meisterwerk geschenkt würde“, fasste der Auftraggeber des Werks, Paul Sacher, seine Eindrücke bei der Uraufführung zusammen. Ähnlich empfindet es wohl das Publikum in Neuss, das seine Begeisterung über die eindrucksvolle Aufführung der Kammerakademie kaum zu zügeln weiß.

Einmal mehr belegt Koncz an diesem Abend, dass man dem Publikum sehr wohl viel mehr zutrauen darf als allgemein von Konzertveranstaltern angenommen. In der Kammerakademie findet der Dirigent allerdings auch einen Klangkörper, der auch bei solch eher ungewöhnlicher Musik vor Spielfreude förmlich sprüht.

Michael S. Zerban