O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christoph Krey

Aktuelle Aufführungen

Prospero will heim

DER STURM
(William Shakespeare)

Besuch am
19. Juni 2021
(Premiere)

 

Globe-Theater, Neuss

Das Shakespeare-Festival in Neuss findet statt. Das ist die gute Nachricht. Es wird aber nur deshalb ausgerichtet, weil eben niemand ins Globe-Theater kommt, sondern am Vorführring ein Open-Air-Bereich eingerichtet worden ist. Das Gelände auf der Galopprennbahn ist kaum wiederzuerkennen. In der Halle, die sonst für das Catering vorgesehen ist, ist ein Testzentrum eingerichtet, der Vorführring ist bis weit in die Mitte des Platzes vor dem Globe-Theater eingezäunt. Gleich dahinter gibt es wenigstens einen Verkaufsstand für Getränke. Und die Albernheiten nehmen kein Ende. Während auf dem Platz – oder dem schmalen Streifen, der davon übriggeblieben ist – keine Maskenpflicht besteht, werden die Besucher verpflichtet, vom Eingang des Geländes bis zu ihrem Sitzplatz eine Maske aufzusetzen. Erstmals an diesem Tag ist die Inzidenz bundesweit auf einen einstelligen Bereich gefallen. Das Virus ist weg, aber es taugt wohl noch immer für Repressalien gegenüber den Bürgern. Auch hier. Und der Veranstalter muss sich an Auflagen halten, die an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten sind.

Die treuen Besucher des Festivals lassen sich weder von solchen Widrigkeiten noch von der Übertragung eines Fußballspiels der deutschen Nationalmannschaft im Rahmen der Europameisterschaft davon abhalten, wenigstens die Ahnung von der besonderen Atmosphäre des Festivals einzuatmen. 180 Stühle dürfen die Veranstalter aufstellen, fairerweise muss man sagen, dass in dieser Konstellation auf dem Platz auch gar nicht für viel mehr Stühle Raum gewesen wäre, rund 175 davon sind an diesem Abend besetzt. Man hat also tatsächlich das Gefühl, in einem vollbesetzten Theater Platz zu nehmen. Auch in diesem Jahr ist alles wieder extrem liebevoll hergerichtet. Auf den Rasen, oder was davon noch übrig ist, dürfen Getränke mitgenommen werden. Bei der Hitze des Tages fast schon eine Notwendigkeit. Blumentöpfe mit eingesteckten Anzeigern bezeichnen die Sitzreihen, und auf der Rückseite der eher einfachen Stühle sind die Platznummern auf Plaketten angebracht. Da braucht es keine Platzanweiser. Allein die Bühne ist an diesem Abend schon einen Besuch wert. Sie ist mittig auf der Längsseite des Vorführrings aufgestellt und bietet links und rechts „Anlaufflächen“. Was man aus dieser Konstellation machen kann, zeigt das Globe Berlin, das Der Sturm von William Shakespeare in einer deutschen Fassung von Christian Leonard, dem ensembleeigenen Produktionsleiter, mitgebracht hat. Leonard hält sich eng an die Originalfassung, ohne allzu viel Gedrechseltes ins Deutsche zu übertragen. Die Belohnung dafür folgt auf dem Fuß.

Foto © Christoph Krey

Das Stück wurde für die verhältnismäßig kleine Bühne und ihre verschiedenen Ebenen im Globe-Theater eingerichtet. Nun muss Regisseur Jens Schmidl die Inszenierung im Grunde vollkommen neu anlegen. Denn auf der Open-Air-Bühne müssen die Räume vollständig anders angelegt werden. Und darin zeigt sich auch die Meisterschaft von Schmidl. Er nutzt das gesamte Umfeld. Von der Böschung hinter der Bühne über die Anlaufflächen über eine zusätzliche Rampe auf der linken Seite, Zusatzelemente neben der linken Bühne bis in die Gräben lässt er die Schauspieler immer wieder überraschend auf- und abtreten. Thomas Lorenz-Herting unterstützt den Regisseur dabei kongenial. Mit solchen Ansprüchen sind die Techniker des Shakespeare-Festivals permanent überfordert. Und jetzt macht sich die vereinfachte Textfassung im besten Sinne von Leonard bezahlt, die trotz der erheblichen Unzulänglichkeiten in der Akustik noch verständlich bleibt. Wohl auch deshalb, weil die Darsteller über weite Strecken ihr gesamtes Stimmvolumen präsentieren müssen. Dadurch werden die Auftritte deklamatorischer, als vermutlich einstudiert. Ein kleiner Wermutstropfen, der aber vollumfänglich kompensiert wird. Da gibt es einerseits die wunderbar fantasievollen Kostüme von Katharina Piriwe, die sowohl auf die Zeit der Handlung anspielen, als auch für die Umzieheskapaden für die verschiedenen Rollen, die einzelne Darsteller gleichzeitig spielen, funktionieren.

Andererseits sind es aber auch und vor allem die darstellerischen Leistungen. Ein prachtvolles Ensemble ist da aus Berlin angereist. Anselm Lipgens spielt kurz im Prolog den Bootsmann, ehe er sich voll und ganz seiner Rolle als Prospero widmen kann. Sowohl von der Statur als auch im Spiel ist er schlicht ein idealer Herzog von Mailand, dem man auch auf der Insel und in seinen persönlichen Nöten die Nobilità abnimmt. Fast noch überzeugender stellt Nadja Schimonsky seine Tochter Miranda dar. Einfach großartig die Leichtigkeit und Verspieltheit der 15-Jährigen, die bis dato noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatte. Man nimmt ihr die eigentlich doch so unglaubwürdigen oder unbekannten Emotionen des lebensoffenen Teenagers vollkommen ab, freut sich an der Herzlichkeit und genießt die Flatterhaftigkeit des Schmetterlings, der die ganz große Liebe entdeckt. Die große Liebe ist der Sohn des Königs von Neapel, Ferdinand, den Benjamin Krüger denkbar erotisch darstellen darf. Wiebke Acton hat als Luftgeist Ariel ein so wunderbares Kostüm, dass es ihr schon die halbe Rolle abnimmt. Loyalität und Freiheitsdrang halten sich bei ihr die glaubhafte Waage. Zierlich und scheinbar zaghaft unterstreicht sie die „Luftigkeit“. Ob man Saskia von Winterfeld lieber als den wilden und missgestalteten, später ziemlich besoffenen Sklaven Caliban oder als Quasselstrippe in der Rolle der Staatsrätin Gonzalo mag, muss jeder für sich selbst entscheiden. In beiden Rollen kann sie brillieren.

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Die Nebenrollen sind so angelegt, dass mancher Regisseur versucht sein mag, daraus Slapstick-Höhepunkte zu fertigen. Schmidl widersteht dieser Anlage, obwohl das Publikum durchaus auf Schenkelklopfer aus ist. Danke dafür. Die gezeigten Überdrehungen reichen absolut aus. Bei dem über zwei Stunden dauernden Abend gibt es ein riesiges Textvolumen. Da kommen die Darsteller mit erstaunlich wenigen Hängern und so gut wie keinen Patzern aus. Das ist eindrucksvoll und zeigt in Kombination mit ihrer Spielfreude, welches Engagement das Ensemble auf die Bühne bringt.

Das geht bis hin zur Musik von Bernd Medek. Hier sind einige musikalische Live-Effekte an Xylofon, Marimbafon und Rüttelblech genau so zu erleben wie ein paar Lieder. Insgesamt bleibt der musikalische Anteil etwas zu zurückhaltend. Da hätte man sich gerade in der Untermalung ein bisschen mehr Stimmung gewünscht.

Insgesamt erlebt der Zuschauer in Neuss aber Theater in seiner besten Form, das ihn recht schnell in den Bann zieht und auch nach der Pause eher noch einmal stärker fesselt. Dass Prospero endlich nach Hause will, macht er recht mutig vom Applaus des Publikums abhängig. Aber das Publikum gönnt ihm die Rückkehr nach Mailand mit Klatschen, Begeisterungspfiffen und Bravo-Rufen. So muss es sein. Eine große Produktion – nicht nur für Shakespeare-Fans – die zeigt, dass in den kommenden Tagen auch unter Open-Air-Bedingungen noch einiges beim Festival zu erwarten ist. Ein wenig Glück gehört beim Tüchtigen ja auch immer mit dazu. Und so wartet das Gewitter an diesem Abend, bis vermutlich auch der letzte Zuschauer trockenen Fußes nach Hause gekommen ist. Ein gutes Zeichen.

Michael S. Zerban