Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
SEASONS!
(Philip Glass, Max Richter)
Besuch am
9. April 2022
(Einmalige Aufführung)
Philip Glass ist Zeit seines Lebens ein fleißiger Mann gewesen. Mit seinem Kommilitonen und späteren Kollegen Steve Reich gründete er das Umzugsunternehmen Chelsea Light Moving, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Später arbeitete er als Taxifahrer, Klempner, Möbelpacker und Kellner, um seine Schulden zurückzuzahlen. 90.000 Dollar liefen auf, als er zwei Aufführungen seiner Oper Einstein on the Beach an der Metropolitan Opera in New York zeigte. 1976 war sie in Avignon in der Regie von Robert Wilson uraufgeführt worden und brachte seinen internationalen Durchbruch als Komponist, in New York war sie beide Male ausverkauft. Längst gilt der Musiker zusammen mit Steve Reich, Terry Riley und La Monte Young als einer der wichtigsten Pioniere der Minimal Music.
Den Begriff der Minimal Music zu erklären, ist schwierig. Zu viele Musikströmungen spielen dabei eine Rolle. Entstanden ist die Musikform in den 1960-er Jahren in den USA, Anfang der 1970-er Jahre prägte Michael Nyman den Namen. Ohne auf die einzelnen Grundströmungen einzugehen, lässt sich festhalten, dass sich die Komponisten der Seriellen Musik entgegenstellten. Im Vordergrund und als größte Gemeinsamkeit der Minimal Music gilt das repetitive Element, das sich durch minimale Variationen permanent verändert. „Bei Phil ist es ein bisschen wie bei einer Zugfahrt einmal quer durch Amerika: Wenn Sie aus dem Fenster sehen, scheint sich stundenlang nichts zu verändern, doch wenn Sie genau hinsehen, bemerken Sie, dass sich die Landschaft sehr wohl verändert – langsam, fast unmerklich“, beschrieb Peter Sellars die Wirkung der Musik.
Isabelle van Keulen – Foto © O-Ton
2009 befasste sich Glass mit einem Werk, das 1725 entstand und seitdem so oft aufgeführt wurde, dass man es trotz seiner Genialität eigentlich nicht mehr hören mag. Antonio Vivaldi verfasste mit seinen Vier Jahreszeiten eine Programmmusik, die Glass veranlasste, einen Gegenentwurf zu schaffen. Er fasste die vier Konzerte zu einem viersätzigen, etwa 40-minütigen Werk zusammen, das durch einen Prolog und „Songs“ miteinander verbunden wird.
Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein hat das Violinkonzert Nr. 2, das unter dem Namen The American Four Seasons bekannt geworden ist, jetzt mutig auf den Programmzettel ihres fünften Abonnementkonzerts in der Neusser Stadthalle gesetzt. Und die Neusser Bürger haben genug Vertrauen, ihr in dieser Entscheidung zu folgen. Noch immer baut die Kammerakademie auf den Faktor Sicherheit in Sachen Corona-Infektion und besetzt die Stadthalle im Schachbrettmuster. Bereits am Nachmittag hat eine erste Vorstellung stattgefunden, die größten Zuspruch erfuhr, in der zweiten Aufführung am Abend sind deutlich weniger Besucher zu verzeichnen. Eine Erfahrung, die die Kammerakademie in den vergangenen Monaten durchgängig erleben durfte. Ob sich daraus Konsequenzen für die Zukunft ergeben, wird man sehen.
Sonia Crisante – Foto © O-Ton
Die Aufstellung des 25-köpfigen Orchesters ist ungewöhnlich. Der Klang geht beim Konzert vor allem. Darüber muss man nun wirklich nicht diskutieren. Trotzdem ist schade, dass sich die Musiker so dicht gedrängt aufstellen, dass Cembalo und Synthesizer vom Saal her kaum zu sehen sind. Die musikalische Leitung übernimmt Isabelle van Keulen und damit auch die Interpretation der „Songs“. Das Vertrauen der Besucher wird nicht enttäuscht. Es ist der Abend der Geigerin. Die virtuosen Soli werden mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit vorgetragen, die grenzenlos sind. Das Orchester arbeitet ihr mit Schwerarbeit und größter Begeisterung zu. Van Keulen hat die Entwicklung des Orchesters in den vergangenen Jahren stetig vorangetrieben, und die Musiker wissen es ihr zu danken. Mit größter Akkuratesse liefern sie die Repetitionen mit den ewigen minimalen Variationen, um die Soli van Keulens förmlich herauszuschälen. Philip Glass ist inzwischen über 80 Jahre alt, und sicher wäre eine Reise nach Neuss zu beschwerlich. Aber gewünscht hätte man es ihm schon, diese wunderbare Interpretation seines Werks hier live zu erleben.
Einen anderen Ansatz findet Max Richter. Der Komponist, der in Deutschland geboren und in England aufgewachsen ist, heute aber in Berlin lebt, wollte 2012 eine Rekomposition schaffen, ein Werk, das den heutigen Hörgewohnheiten entspricht. Jugendliche Hörer zieht er deswegen nicht in Hülle und Fülle an. Jedenfalls hat Richter viel Wert darauf gelegt, die Höhepunkte der Vier Jahreszeiten in eine moderne Übersetzung zu führen. Und das gelingt ihm voll und ganz. Auch Richter verkürzt, nicht ganz so gekonnt wie Glass, aber die Begeisterung des Publikums bleibt. Mehr als anderthalb Stunden folgt das Publikum gespannt den Entwicklungen auf der Bühne, ehe es versucht, die Leere des Saals mit Applaus zu füllen. Letztlich ist die Begeisterung auf der Bühne hörbarer als im Saal. Isabelle van Keulen hat wieder einen Triumph zu verzeichnen. Es wird Zeit für Martin Jakubeit, den Orchestermanager, das Sicherheitskonzept zu überdenken. Um mehr Leute in den Genuss eines solch großartigen Konzerts zu bringen. Und den Applaus wieder so zu hören, wie er verdient ist.
Michael S. Zerban