O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Kfir Bolotin

Aktuelle Aufführungen

Unspektakuläre Gewalt

RAGE
(Tamir Ginz)

Besuch am
27. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Internationale Tanzwochen Neuss, Stadthalle Neuss

Von Oktober bis März lädt die Stadt Neuss seit vielen Jahren Tanzkompagnien aus der ganzen Welt ein, um sie dem Publikum in der Stadthalle zu präsentieren. Von den Bürgern der Stadt und des Umlands wird das sehr gut angenommen. Da gibt es einerseits Gruppen, die man neu entdecken kann, und andererseits auch Kompagnien, die seit vielen Jahren immer wieder zu Gast sind. Jetzt geht es also wieder los. Und die Verantwortlichen haben Glück. Weil steigende Inzidenzen plötzlich nicht mehr so wichtig sind, darf die Stadthalle komplett besetzt werden. Das sorgt beim Einlass erstmal für Wartezeiten, denn auch hier müssen die Besucher genesen, geimpft oder getestet und das will kontrolliert sein. Das Servicepersonal hat das gut im Griff, arbeitet zügig und bleibt dabei sehr freundlich. So kommt jeder rechtzeitig auf seinen Platz, an dem Abstandsregeln und Maskenpflicht nicht mehr gelten.

In diesem Jahr ist zur Eröffnung der Internationalen Tanzwochen die Kamea Dance Company aus Israel eingeladen. Choreograf Tamir Ginz präsentiert als Europapremiere sein Stück Rage. Rage bedeutet im Englischen so viel wie Wut, Zorn, Raserei. Ein starker Titel, der viel verspricht. Die Truppe will, so ist in der Vorankündigung zu lesen, die „verschiedenen Facetten der Gewalt beleuchten, die die Welt immer wieder erschüttern“. Damit ist unklar, wessen Wut hier eigentlich gemeint ist. Was ja eine durchaus interessante Ausgangslage ist.

Sechs Tänzer und sechs Tänzerinnen sind aus Beer Sheva, einer Großstadt am Rande der Wüste Negev, angereist, um die Musik von Avi Belleli zu interpretieren, die der Musiker für das Stück komponiert hat. Da deutsche Kulturschaffende neuerdings ihre fehlende Liebe zur Sprache entdecken, verwundert es nicht, dass man über die Gesangs- und Sprechtexte in der Komposition als Besucher nichts weiter erfährt. Da muss man sich als Zuschauer mit den Rhythmen und der Lautmalerei begnügen.

Foto © Kfir Bolotin

Shay Yehudai hat die Bühne und das Licht vorbereitet. Im Hintergrund der Bühne ist eine schwarze Wand aufgestellt, die immer wieder Anlaufpunkt für die Tänzer ist. Das Licht konzentriert sich stark auf LED-Verfolger, die allerdings schnellwechselnd und fantasievoll eingesetzt werden, auch wenn sie häufig genug als Gegenlicht die Tänzer zu Scherenschnitten verkommen lassen. Die Kostüme von Inbal Ben Zaken sind „trendy“. Die Männer in Hemden und langen Hosen, die Frauen immerhin in mal auch im Kleidchen, Hosenanzug oder kurzen Hosen mit Blusen, allesamt aber eher im Freizeitlook. Ja, es passt irgendwie zum Stück, lässt aber Fantasie vermissen und folgt den Vorstellungen der Tanzszene, am liebsten überhaupt nicht mehr über die Gestaltung von Kostümen nachzudenken, sondern gleich alle im Trainingsanzug auftreten zu lassen. Immerhin gibt es zwischenzeitlich die zwei Engel in Weiß, die mit Federn aufeinander eindreschen, und den Tyrannen, der in Schwarzweiß mit roten Knöpfen für Abwechslung sorgt. Dass am Ende alle ihre Kleidung ablegen und in „Unterwäsche“ auf der Bühne stehen, ist wirklich keine neue Idee und erschließt sich auch im Handlungsrahmen nicht.

Von einer eigentlichen Handlung kann allerdings auch keine Rede sein. Vielmehr reiht Ginz Szene an Szene. Da gibt es den militärischen Aufmarsch, die Fluchtbewegungen, die Vergewaltigung, den Tyrannen, der sein Volk lächelnd jovial unterjocht und so weiter. All das ist in allzu bekannten tänzerischen Bewegungen weichgespült. Ja, die Tänzer geben ihr Bestes, verausgaben sich bis hin zur fehlenden Präzision, aber der Choreograf gibt ihnen keine echte Gelegenheit zur rage. Wut bleibt der Bühne ebenso fern wie eine neue Bewegungssprache. Da wird eine Chance vertan, politische Akzente zu setzen. Höchst bedauerlich.

Das Publikum lässt sich von sympathischen Tänzern verführen, das Thema nicht zu durchdenken und die Seichtigkeit des Abends als Unterhaltung zu nehmen. Da wird den Tänzern viel Applaus für eine gut einstündige Aufführung gezollt, die so viel mehr Wut hätte bieten können, um zu einer echten Aussage zu kommen. Damit starten die Internationalen Tanzwochen in Neuss mit einer ausgesprochen mediokren Aufführung, die hoffentlich nicht den Niedergang einer an sich doch attraktiven Veranstaltungsreihe einleitet.

Michael S. Zerban