O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Moderner Orient

DER ORIENT ROCKT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
15. August 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Stadt Neuss, Globe-Theater

Es war wieder einmal eine Zeit, in der viele Menschen aus Krieg und Not in anderen Gegenden der Welt nach Deutschland flüchteten. Hier hat es seit 1945 keine kriegerische Auseinandersetzung mehr gegeben. Was für eine Errungenschaft! Und was sollte man da anderes tun, als andere Menschen in einer friedlichen Gesellschaft willkommen zu heißen. In Langenfeld, einer Gemeinde im Rheinland, gründete man einen „Chor ohne Grenzen“, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und in die Gemeinschaft aufzunehmen. Jeder durfte teilnehmen, weil die Menschen dort dachten, dass man nicht leichter Deutsch lernen kann als mit Gesang. Das funktionierte. Aber die Chormitglieder waren bald mit für sie wichtigeren Dingen befasst. Übrig blieb eine kleine Gruppe, aus der die Band 5000 Miles entstand. Und die wechselte alsbald die Zielgruppe. Sollten ursprünglich Syrier, Afghanen oder andere Flüchtlingsgruppen dort sängerisch Deutsch lernen, wollte die Band das Gegenteil erreichen. Mit den Liedern der Heimat wollte 5000 Miles sich den Herzen der Deutschen annähern. Ob und wie ihnen das gelingt, können sie heute Abend im Globe-Theater beweisen. Und es ist ein besonderer Moment. Denn nach der Band werden noch zwei Konzerte gleichzeitig zu Ende gehen und damit das Ende des ersten Neusser Kulturgartens feiern.

Erstmalig fand in diesem Jahr der Neusser Kulturgarten statt, ein Festival, das kurzfristig und ersatzhalber mit den Mitteln des ausgefallenen Shakespeare-Festivals realisiert wurde. Und das Wetter spielte mit. Immerhin 20 von 34 Aufführungen konnten auf der neu eingerichteten Freiluftbühne gezeigt werden. Das, so muss man es sagen, weltberühmte Shakespeare-Festival in Neuss zog jährlich rund 14.000 bis 15.000 Besucher an. Aber dank Shutdown war es Makulatur. Der Kulturgarten Neuss musste sich in diesem Jahr mit maximal 3.000 Besuchern unter Berücksichtigung der Abstandsregeln begnügen. Ein schwieriger Start, der allerdings zu einem guten Ende gekommen ist. Harald Müller, Kulturamtsleiter in Neuss, hatte besonders optimistisch 70 Prozent Auslastung ausgerufen. Tatsächlich wurden nach offiziellen Angaben des Amtes mehr als 72 Prozent erreicht, ohne dass der ansonsten übliche Großaufwand an Werbung hätte angebracht werden können. Eigentlich logisch bei einem Festival, das jugendlich-frisch daherkommt, neue Zielgruppen anspricht und nichts mit der Spezialisierung eines Shakespeare-Festivals zu tun hat. Ob hier im Ausnahmejahr 2020 etwas Neues herangewachsen ist, das erheblich vielversprechender funktioniert als die Tradition, muss im Stadtrat bei der Bereitstellung von Geldern für das kommende Jahr sicher ausgiebig diskutiert werden. Zumal Müller und sein Team ein ausgesprochen integratives Festival ins Leben gerufen haben, dass der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Stadt ungleich mehr entspricht als ein Festival, das sich um einen einzelnen Schriftsteller – na ja, so ganz genau weiß man es ja nicht – kümmert.

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An diesem Abend also gibt es Musik aus Arabien, Kurdistan und Persien. Gegenden, die es auf der Landkarte längst nicht mehr gibt. Aber es gibt die Völker nach wie vor, und in ihren Liedern sind sie auch nicht totzukriegen. Einmal mehr ein musikalisches Statement, das dem Wesen der Menschen und nicht der politisch gewollten Entwicklung entspricht. 5000 Miles gehen einen Schritt weiter. Mit den Arrangements, die überwiegend von Bandleaderin Susanne Wagner geschaffen werden, bekommt die Musik einen europäischen Dreh. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass orientalische Instrumente an diesem Abend vollständig fehlen. Mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, Akkordeon und E-Piano geht es auf die Reise.

Zur Eröffnung gibt es das persische Liebeslied Shab bood biaban bood von Fridon Farchzad, wie überhaupt viel von der Liebe die Rede sein wird. Auch bei dem folgenden kurdischen Liebeslied Leyla von Gelêri und Zahid Brîfkanî erfährt das Publikum nicht viel über die Inhalte. Zwar bemühen sich die vier Sänger, ein paar Sätze darüber zu erzählen, aber das funktioniert nicht so richtig. Und der Abendzettel gibt außer einer Titelliste in falscher Reihenfolge wenig her. Namen der Sänger und Musiker fehlen gleich ganz. Mit dem persischen Agha! Nigah Dar von Kiosk und Arash Sobhani gibt es das einzige politische Lied, das sich mit den fehlenden Rechten der Frauen in der islamischen Gesellschaft befasst. Nach Nassini und Pichak, das eine arabisch, das andere persisch, wird ein weiteres großes Thema angesprochen. Xerîbim von Koma Azad erzählt vom Heimweh und der Trauer über den Verlust der Heimat von Kurden, die mittlerweile über die ganze Welt verstreut sind. Nach einem weiteren persischen Liebeslied finden in Simin Bari von Ebrahim Safaei und Jamshid Sheibani persische und kurdische Sprache zusammen. Ayuha as Saqi ist ein arabisches Gedicht aus dem elften Jahrhundert, das von Fadia al Haj neu vertont wurde und von der berauschenden Wirkung frischer Verliebtheit gleich einem alkoholischen Rausch schwärmt. Mit dem kurdischen Tanzlied Berivane von Ciwan Haco geht das Konzert ausgesprochen schwungvoll zu Ende.

Das Publikum erfreut sich an Klang und Rhythmus der Darbietung und dem herzlichen Auftritt der Band. Der Applaus will nicht abreißen, ehe nicht die beiden ersten Lieder noch einmal wiederholt werden. Die Frische des Vortrags bereitet Freude, ob aber die doch sehr stark „europäisierten“ Arrangements zu einem tieferen Verständnis orientalischer Musik und Lebensweise beitragen, darf bezweifelt werden. Für lockere Unterhaltung am Samstagnachmittag reicht es.

Auf dem Vorplatz des Theaters stellt sich in letzten Gesprächen noch einmal jene heitere Gelöstheit ein, die in früheren Jahren zu Shakespeare gehörte und sich dank hervorragender Organisation und überaus freundlichem, aufmerksamem Service-Personal auch auf den Kulturgarten übertrug. Nicht zuletzt sorgte eine ausgewogene vulgo abwechslungsreiche Programmgestaltung für den Erfolg dieses ersten Durchlaufs. Ob es eine Neuauflage geben wird, ist noch mehr als ungewiss. Wünschenswert wäre es allemal.

Michael S. Zerban