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Aktuelle Aufführungen
MATTHÄUS-PASSION
(Johann Sebastian Bach)
Besuch am
17. März 2024
(Einmalige Aufführung)
Noch knapp zwei Wochen sind es bis zum Osterfest. Und so können Christen und Bach-Liebhaber sich derzeit allerorten von Passionsmusik berieseln, pardon, auf den Karfreitag einstimmen lassen. Soeben hat es noch eine Aufführung der Jesus-Passion von Oskar-Gottlieb Blarr in Düsseldorf gegeben. Landauf, landab erschallt die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, ungeachtet aller inzwischen lauter werdenden Kritik an antisemitischen Textinhalten. Dank überschaubaren Personal- und damit Finanzaufwands stören die Kirchenchöre sich dabei nicht so sehr an der Doppelmoral. Seltener ist die Matthäus-Passion zu erleben, obwohl man von vielen Kantoren hört, dass sie auf ihrer Wunschliste ganz oben steht. Aber da passen allzu oft die Ressourcen nicht.
Vor zwei Jahren hat Joachim Neugart, Kantor am Quirinus-Münster in Neuss, erfolgreich die Johannes-Passion in seiner Kirche aufgeführt. Mit dieser Erfahrung wagt er sich nun tatsächlich an die Matthäus-Passion. Und setzt dabei auf bewährte Muster. Das Publikum weiß es zu schätzen und kommt in Scharen. Kaum ein Platz im Münster, der nicht besetzt ist, obwohl es wirklich kalt im Kirchenraum ist und ein permanenter Hauch kalter Luft über die Oberschenkel zieht. Besser kann sich der Erfolg zurückliegender Arbeit kaum belegen lassen. Von organisatorischer Seite ist die Frage, ob man das Monumentalwerk der Kirchenmusik durchführen kann, recht schnell geklärt. Kann man das zusätzliche Personal bezahlen und in der Kirche unterbringen? Dann kann es losgehen. Der Kammerchor Capella Quirina Neuss hat erneut das Orchester Nordrhein Baroque und das Fukio-Saxofonquartett eingeladen, den „Surroundchor“ MS SC auf die Beine gestellt und neben bekannten Solisten die notwendigen zusätzlichen Sänger auf die Bühne gebeten. Vorsorglich hat Neugart darauf hingewiesen, dass die Vorstellung inklusive einer vergleichsweise kurzen Pause dreieinhalb Stunden dauern wird.
Andreas Post – Foto © O-Ton
Eröffnet wird die Aufführung vom Fukio-Saxofonquartett, das wiederum zunächst hinter dem Chor platziert ist, mit dem Präludium in c-Moll BWV 847 von Johann Sebastian Bach. Dann kann die eigentliche Leidensgeschichte unseres Herrn Jesus Christus nach dem Evangelisten Matthäus beginnen. Bei einer derartigen Länge sitzt man am besten vor dem heimischen Radio, um die wechselhaft gesungenen Dialoge zu hören. Oder der musikalische Leiter muss sich einiges einfallen lassen, um außerhalb der musikalischen Möglichkeiten für visuelle Reize zu sorgen. Was in diesem Fall doppelt schwierig ist, weil der Platz nun noch begrenzter und die stimmliche Leistungsfähigkeit ohnehin schon stark beansprucht ist. Und so hält sich die Bewegung in Maßen. Altistin Elvira Bill steht in gewohnter Weise vor Orchester und Chor, während der „Surround Chor“ zu beiden Seiten des Kirchenschiffs an das Publikum herantritt. Was Bill mit den übrigen Solisten – die Soprane Viola Blache und Elisa Rabanus, Altistin Angela Froemer, Tenor Leonhard Reso sowie die beiden Bässe Sebastian Klein und Achim Hoffmann – verbindet, ist der schöne, aber wenig voluminöse Gesang, der die hinteren Reihen laut Aussagen von Besuchern in der Pause nicht mehr erreicht. Zwei Ausnahmen gibt es. Da ist zum einen Gotthold Schwarz, der ältere Bariton, der hier den jungen Jesus rezitiert. Eine etwas irritierende Besetzung, die Schwarz durch den kultivierten Klang seiner Stimme wettmacht. Und zum anderen begeistert erneut Tenor Andreas Post als Evangelist. Der hatte schon in der Johannes-Passion als Erzähler geglänzt. Heute zeigt er, welche Reserven da noch vorhanden sind. Wenn nötig, mit geradezu donnernder Lautstärke bei absoluter Textverständlichkeit, baut er immer wieder Spannungsmomente auf, wenn er ganz fein akzentuiert. Ein echter Genuss, den er auch tatsächlich von Anfang bis Ende durchhält. Kompliment. Und so freut man sich geradezu darauf, dass er sich wieder aus der Mitte des Chores erhebt.
Joachim Neugart – Foto © O-Ton
Neugart hat die musikalische Großveranstaltung souverän im Griff. Da braucht es die große Geste eher selten, wichtiger scheinen ihm Blickkontakt und Körperbewegung, ein kleiner Wink hier und da, ein ermunterndes Nicken. Das geschieht scheinbar beiläufig, aber nie nachlässig. Einmal nur wird er ungnädig. Als nach dem ersten Teil die Pause beginnt, haben viele Besucher den Wunsch, den Musikern für die bisher gezeigte, überaus gelungene Leistung zu applaudieren. Da winkt er unwillig ab. Schließlich ist das hier keine Party, sondern die Wiedergabe der Leidensgeschichte Jesu. Eine Unterbrechung bedeutet ja noch nicht, dass man gleich die ganze Kontemplation über den Haufen werfen muss.
Nach der Pause sorgt das Saxofonquartett – diesmal von den Seiten – mit Joseph Haydns Fuga a due soggetti dafür, dass das Publikum wieder zur Konzentration zurückfindet. Auch im zweiten Teil kann die Leistung aller Beteiligten nicht hoch genug gelobt werden. Dabei liegt die Schwierigkeit weniger darin, drei Stunden am Stück zu spielen. Vielmehr muss hier jeder über den gesamten Zeitraum hochkonzentriert bleiben, um sein Scherflein auf den Punkt beizutragen. Der einzige, der neben dem Dirigenten nahezu im Dauereinsatz mitgestaltet, ist Organist Stefan Palm. Erwähnenswert auch die beiden Geigerinnen Salma Sadek und Emily Deans sowie die Flötisten Thomas Wormitt und Dominik Schneider, die mit ihren Soli dafür sorgen, dass auch der zweite Teil noch einmal richtig Fahrt aufnimmt.
Nach dem letzten „Ruhe sanfte, sanfte ruh‘“ des Chores bittet Neugart noch um eine halbe Minute Ruhe zur Besinnung, indem er die Arme erhoben hält. Dann kennt der Applaus kein Halten mehr. Der Karfreitag kann kommen.
Michael S. Zerban