Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
JOHANNES-PASSION
(Johann Sebastian Bach)
Besuch am
10. April 2022
(Einmalige Aufführung)
Das Quirinus-Münster in Neuss wurde 1230 fertiggestellt und gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Kreisstadt. Es verfügt heute mit 85 Registern auf vier Manualen über eine der größten Orgeln im Erzbistum Köln. Seit 1988 ist Joachim Neugart Kantor am Münster. Mit 16 Jahren begann er ein Orgelstudium, an das sich ein Studium der Kirchenmusik anschloss. Seit 34 Jahren ist er für die Leitung der Chöre sowie die Orgelmusik in Liturgie und Konzert am Quirinus-Münster zuständig. Unermüdlich arbeitet er daran, die Menschen in Neuss für Orgelwerke zu begeistern. Dabei reicht das Spektrum von Johann Sebastian Bach bis zur Orgelmusik der Moderne. Unter anderem hat er dazu die Konzertreihe Orgelsommer Neuss ins Leben gerufen. Neben seiner Leidenschaft hat der Münsterkantor aber auch die kirchlichen Pflichten wahrzunehmen. Und dazu gehört, die Menschen angemessen auf den Karfreitag einzustimmen. Dazu gibt es im konventionellen Gedankengut der Gegenwart zwei Möglichkeiten: Man kann die Johannes-Passion oder die Matthäus-Passion aufführen. „Am Karfreitag Nachmittag gab es nur einen Vespergottesdienst – ausgestattet mit Glockengeläut, Gemeindegesang und Predigt – und zwar abwechselnd zwischen Thomaskirche und Nikolaikirche. Bach hatte also den kompletten Thomanerchor und alle Instrumentalisten zur Verfügung, konnte nur für diesen Anlass groß angelegte Kirchenmusik konzipieren“, erläutert Otto Kargl im vorbildlichen Programmheft des heutigen Abends. 1724 wurde die Johannes-Passion erstmalig in der Nikolaikirche, drei Jahre später die Matthäus-Passion in der Thomaskirche zum ersten Mal aufgeführt.
Andreas Post als Evangelist – Foto © O-Ton
Neugart hat sich dieses Jahr für die Aufführung der Johannes-Passion entschieden. Und er hat es darauf angelegt, sich der Intention des Komponisten anzuschließen, „alles Dagewesene zu übertreffen“, wie es Christoph Wolff formuliert hat. Was man dazu braucht – Personal und Fantasie – hat der musikalische Leiter offenbar zur Genüge. Das Publikum hat es im Vorfeld vernommen und kommt zuhauf. Von den zusätzlich aufgestellten Stühlen bleibt keiner frei, in den Kirchenbänken sitzen die Menschen dichtgedrängt zusammen. Da fühlt man sich in diesen Zeiten schon ganz wohl, dass wenigstens darum gebeten wird, Masken zu tragen. Auch wenn niemand darauf angesprochen wird, wenn er sich um diese Bitte nicht kümmert. Die allermeisten freilich halten sich daran.
Für die Aufführung hat Neugart alles an Personal aufgeboten, was nur verfügbar ist, auch wenn es zunächst gar nicht so aussieht. Das Orchester Nordrhein Baroque hat vor dem Altarraum Platz genommen, dicht umringt vom Kammerchor Capella Quirina Neuss. Alles so, wie man es von vielen Bildern kennt. Das unterscheidet sich nicht im Geringsten von anderen Kirchen, wo dann irgendwann noch vier Solisten in die Frontlinie treten. Hier allerdings ist von Anfang an alles ein bisschen anders. Vier Männer betreten den Altarraum, in dem Pulte aufgestellt sind. Das Saxofonquartett Fukio eröffnet den Abend mit dem neunten Satz aus Philip Glass‘ Streichquartett Nr. 3 mit dem Namen Mishima. Unüberlegt ist, dass die Choristen stehenbleiben, denn so verdecken sie zu großen Teilen den Auftritt des Quartetts, das hier eine prächtige Vorstellung abliefert. Überhaupt sind die Bläser die benachteiligten Teilnehmer. Aber das wird erst später offenbar.
Joachim Neugart – Foto © O-Ton
Das Spektakel hat begonnen. Nach dem Einleitungschor tritt der Evangelist aus der Mitte des Chors hervor. Tenor Andreas Post erledigt seine Arbeit vorzüglich. Auch der Bass Sebastian Klein begeistert, wenn er als Jesus hinten rechts in Erscheinung tritt. Und damit wird die Idee Neugarts klar. Er hat tatsächlich nahezu alle Rollen einzeln besetzt. Das nennt man Luxus. Der Kantor nennt es Surrounding. Dazu haben sich die Bläser auf die beiden Baugerüste im Kirchenschiff zurückgezogen. Bei den Chorälen tritt zusätzlich der „Surroundchor“ an, der aus Mitgliedern von Münsterchor Neuss und Schönhausenchor Krefeld zusammengesetzt und an den Rändern des gesamten Kirchenschiffs verteilt ist. Eine grandiose Idee, auch wenn es den Choristen im Halbdunkel bisweilen trotz Dirigats, zu dem Neugart vom Pult in die Kirchenmitte eilt, schwerfällt, immer den richtigen Einsatz zu finden. Das gleicht Achim Hoffmann mit jugendlich-balsamischem Bass als Pilatus vom Altarpodest links mit Leichtigkeit aus. Tenor Leonhard Reso ist für die Arien zuständig, was er gleichfalls mit Bravour erledigt. Dorothea Jakob nimmt die übliche Position der Sopranistin ein. Ebenso wie Altistin Angela Froemer, die gemeinsam mit Klein den Höhepunkt des Abends und damit die besondere Sichtweise der Passion gestaltet. „Es ist vollbracht“, erschallt es getragen und seidenweich unter dem Kirchendach. Da geht der Erlösungsgedanke tief unter die Haut.
Obwohl das Programmheft den Text der Passion liefert, werden die Hefte doch schnell beiseitegelegt. Denn der Chor bleibt zu jeder Zeit wunderbar textverständlich. Das erlebt man auch nicht so oft. Mit dem Schlusschoral „Herr Jesu Christ, erhöre mich, erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich“ geht eine glanzvolle Aufführung zu Ende. Noch steht Neugart mit erhobenen Händen in der Kirchenmitte und sorgt für einen Moment des Innehaltens, aber dann bricht sich der Jubel des Publikums Bahn. Die Gestaltungsidee Neugarts überzeugt sie alle ebenso wie die Leistungen der Sänger und Musiker, auch wenn der akustische Effekt – zumindest je nach Sitzplatz – nicht so deutlich war wie vermutlich erwünscht. Aber die Akustik des sakralen Raums hat ihre eigenen Gesetze. Und innerhalb dieser Grenzen hat der Abend wunderbar funktioniert. Die Besucher nehmen die tröstliche Nachricht der Passion mit in den Karfreitag. So soll es sein.
Michael S. Zerban