O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Graca Darius Bialojan

Aktuelle Aufführungen

Ambivalenz der Nähe

I LAMENTI D’ORFEO
(Giovanni Alberto Ristori)

Besuch am
18. August 2023
(Premiere am 17. August 2023)

 

Globe, Neuss

Findet im Rheinland ein Umzug, ein Markt, eine Festivität zweimal statt, sprechen die Leute von einer Tradition. So gesehen ist Globe Baroque – Sommeroper im Globe Neuss auf dem besten Wege, eine traditionelle Instanz zu werden. Mit der Serenata I lamenti d’Orfeo von Giovanni Alberti Ristori stellen die Veranstalter, das Kulturamt Neuss in Kooperation mit dem Festival Alte Musik Knechtsteden, zum zweiten Mal die Eignung der Heimspielstätte des Neusser Shakespeare-Festivals unter Beweis, sich als Adresse für Liebhaber der Alten Musik zu profilieren. Jedenfalls dann, wenn das Publikum diese Ambition mittelfristig honoriert.

Das Neusser Globe, Nachbau des elisabethanischen Globe Theatre in London mit einer Platzkapazität von bis zu 500 Besuchern, ist eine zwölfeckige Holz-Stahl-Konstruktion mit schwarz-weißen Blendläden auf den Fenstern im ersten und zweiten Geschoss. Es liegt hinter der Haupttribüne der Galopprennbahn. Rasenflächen seitlich bieten Ansätze für eine Opern-Picknick-Kultur à la Gyndebourne, die sich aber nach dem aktuellen Eindruck noch entwickeln muss.

Als Schauplatz sommerlich leichter Barockunterhaltung bietet das Globe Oper unter ungewöhnlichen Vorzeichen. Die Bühne ist vom Publikum, das im Parkett und auf zwei Rängen eng beieinandersitzt, nur wenige Schritte entfernt. Ob diese Nähe – vielleicht aber auch der Mangel an Distanz – die Rezeption der Aufführung erleichtert oder erschwert, bleibt ein Neusser Geheimnis, das nur individuell beantwortet werden kann. Keine offene Frage ist die spezielle Akustik in dem knochentrockenen Bau ohne Nachhall, auf die sich Sänger und Instrumentalisten einstellen müssen.

Francesca Lombardi Mazzulli – Foto © Graca Darius Bialojan

Wie beim Debüt 2022 mit Alessandro Scarlattis Il giardino d’amore präsentiert das Ensemble 1700 unter der Leitung seiner Gründerin, der Blockflötenspezialistin Dorothee Oberlinger, eine Serenata. Zur Barockzeit sind darunter kleine dramatische Episoden zu verstehen, die bedeutende Komponisten anlässlich höfischer Festivitäten liefern. Ristoris Festa di camera wird 1749 in Kammerbesetzung im privaten Flügel des Dresdener Hofes unter dem Mäzenat von Maria Antonia Walpurgis aufgeführt. Die Ehefrau des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian ist von Musikleidenschaft beseelt. Sie komponiert und lässt sich kurzerhand in das Libretto einfädeln, das der Hofdichter Giovanni Claudio Pasquini liefert.

Ristori, seit 1717 beim italienischen Hofschauspiel des sächsischen Hofes als Compositeur angestellt, erhält 1746 die Stelle des Kirchenkomponisten. Vier Jahre später wird er unter Johann Adolph Hasse zum Vizekapellmeister ernannt. Einen Ruf erwirbt sich Ristori mit seinen komischen Opern, Vorläufern der Opera buffa diesseits der Alpen.

I lamenti d’Orfeo thematisiert das beliebte Motiv des archetypischen Dichters und Sängers Orpheus, das in der Klage um den Verlust der bei den Schatten weilenden Eurydike gipfelt. Anders als in der antiken Sage beleuchtet Ristoris Serenata eine weibliche Perspektive auf den Stoff und seine Protagonisten. Nicht Eurydike erscheint auf der Bühne des Globe. Vielmehr tritt Orfeos Mutter, die Muse Kalliope, in Gestalt der Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli auf der Bühne des Globe ihrem Sohn entgegen. Ihm verleiht der Countertenor Valer Sabadus Ausdruck und Stimme.

Das mythische Ringen um die Rettung Eurydikes verwandelt Pasquini in ein Künstlerdrama, das bezeichnenderweise am Fuße des Parnass spielt. Kalliope hinterfragt die Fixierung ihres Sohnes auf die Kunst des Gesanges und die verlorene Geliebte. Ganz kritischer Gegenpart, mahnt sie die Vernunft und die Verantwortung des Künstlers in der Gesellschaft an. Um die Glaubwürdigkeit von Ort und Zeit zu illustrieren, bringt Johannes Ritter, für Bühne und Kostüm verantwortlich, mythische Darstellungen der Antike per Videoeinspielung auf die Rückwand der kleinen Bühne. Das Material stammt aus der Hand von Marie Rabanus. Der Orfeo des Sabadus agiert im Hirtengewand, mit der Leier am Gürtel, die er auch schon mal im Zorn zu Boden schleudert. Mazzullis Kalliope trägt ein helles Gewand und Sandalen an den Füßen, was die Assoziation einer Kassandra wie einer Seherin erlaubt.

Nils Niemanns Inszenierung verlegt sich unter den begrenzten Möglichkeiten des Globe auf die Ausgestaltung der Personenregie. Insbesondere in Mazzulli weiß er mit ihrer heftigen Mimik und robusten Körpersprache dabei eine vortreffliche Partnerin. Ihre Kalliope versteht es, ihren Filius zur Rede zu stellen, dem in einigen Situationen nichts anderes bleibt als wegzutauchen wie ein Boxer nach einem empfindlichen Schlag. Ansonsten bewegen sich die beiden Hauptdarsteller unter artifiziellen Anleihen am period acting, der barocken Gestik des 18. Jahrhunderts.

Valer Sabadus – Foto © Graca Darius Bialojan

Oberlinger geht die Serenata mit ihrem Ensemble voller Elan und mit profunder Kenntnis der Partitur Ristoris an. Die Aufstellung folgt dem Concerto-grosso-Format der zwei Gruppen. Links die Streicher, rechts Cembalo, Basso continuo, Violoncello, Laute und Fagott. Schreibt Ristori bei einzelnen Instrumentalisten doppelte Besetzungen vor, so sind sie in der Neusser Aufführung zum Teil auf eine begrenzt, etwa bei Fagott und Traversflöte. Mit Folgen. Von einer der vorderen Reihe links vom Steg, der das Parkett teilt, ist das eine Fagott praktisch nicht zu hören.

Hingegen ist der Paukist, der auf der Balustrade zwischen den beiden Hornisten agiert und auch gelegentlich Naturgeräusche nachahmt, mehr als vernehmlich. Das ist ein Stück weit erstaunlich. Um einem Aufführungsverbot im Dresdener Opernhaus am Karfreitag, dem Wunschtermin der Walpurgis, zu entgehen, wird die Darbietung in die privaten Salons verlegt. Aber auch dort ist der Einsatz der Pauke eigentlich deplatziert.

Sabadus kommt mit dem Ruf eines der herausragenden Barockcounter der Gegenwart nach Neuss, den er sich seit seinem Adrasto in der Oper Demofoonte von Niccolò Jommelli bei den Salzburger Festspielen 2009 erworben hat. Die Orfeo-Partie mit ihrem breiten Korridor in der Mittellage zeichnet sich zwar nicht durch die komplexen Anforderungen aus, die Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse und Leonardo Vinci in ihren Meisterwerken verlangen. Gleichwohl begeistert der immer noch jugendlich wirkende Stimmakrobat insbesondere in den Phasen des Aufbegehrens sowie den Passagen voller Schmerz, in denen er seiner Sehnsucht nach Eurydike zum Ausdruck bringt.

Dorothee Oberlinger – Foto © Graca Darius Bialojan

Lombardi Mazzulli versteht es in jedem ihrer temperamentvollen Auftritte blendend, ihre langjährige Erfahrung der Zusammenarbeit mit herausragenden Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis auszuspielen. Ihr technisch versierter Sopran verleiht den drängenden Gesangslinien Nachdruck, den nachsichtigen Anmut. Beider Arien in der streng nach Nummern aufgebauten Partitur münden in Kadenzen, kleine vokale Juwelen, Miniaturen a capella, in denen sich das Format der Protagonisten wie im Brennglas erweist. Das gilt letztlich auch für das einzige Duett, das Ristori seinen Sängern im Finale schenkt.

Walpurgis, Ristoris Arbeitgeberin, wenn man so will, erweist das Ensemble 1700 zu Beginn des Konzerts durch die Wiedergabe des Allegro aus der Sinfonia zu ihrer Oper Talestri Referenz. Verfasst im Alter von 39 Jahren und einer der wenigen Belege für die Tatsache, dass es schon im Spätbarock Komponistinnen gibt. Oberlinger als virtuose Solistin mit ihrem Ensemble erlebt das Publikum mit dem Adagio und dem Allegro aus Hasses Cantata per flauto. Es sind Augenblicke voller Energie und Emotionalität.

Cara Blessing gestaltet den Solopart in Ristoris Oboenkonzert, von dem das Andante und das Allegro gespielt werden, womit auf das Hauptwerk des Abends hingeführt wird. Sie demonstriert mit ihrem Spiel nicht zuletzt, welche individuelle Könner das Ensemble 1700 vereint.

Das Publikum feiert alle Mitwirkenden mit anhaltendem Beifall und immer wieder aufbrandendem Jubel. Die Aufführung ist nicht so gut besucht wie die Serenata Scarlattis 2022. Dafür verteilt sich die Produktion allerdings auf zwei Aufführungstermine. Zum Glück ist es lange nicht so heiß wie im Vorjahr, wovon vor und auf der Bühne profitiert wird. Trotzdem gelingt es einigen im Publikum, mit mitgebrachten Utensilien die gesamte Aufführung durchzufächeln. Auch das eine Reminiszenz an die Aufführungskultur der Barockoper am Dresdner Hof.

Ralf Siepmann