O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Entgegen der Avantgarde

KLANGWANDERUNG
(Reinhold Glière, Rebecca Clarke, Svante Henryson)

Besuch am
29. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Insel-Festival, Raketenstation, verschiedene Spielstätten, Neuss

Zum Abschluss wartet das 19. Insel-Festival auf der Raketenstation der Insel Hombroich in Neuss noch einmal mit einer besonderen Veranstaltung auf, ehe es nach einem Liederabend in der Veranstaltungshalle endgültig Geschichte ist. Wer das Programm nicht ganz genau im Blick hatte, dem konnte es passieren, dass er dieses Festival unter dem vor allem im Nachhinein ein wenig gewollt wirkenden Motto Spuren des Spirituellen ausschließlich in der Veranstaltungshalle der Raketenstation verbrachte. Ein Konzert gab es in der der Raketenstation vorgelagerten Langen Foundation, drei weitere ausschließlich am Sonntag im Haus für Musiker. Hier würde man sich für die Zukunft ein wenig mehr Abwechslung wünschen, gerade dann, wenn man nicht die Möglichkeit hat, an allen drei Tagen an den Konzerten zwischen Vergangenheit und Zukunft teilzunehmen.

Einen kleinen Ausgleich bietet da die traditionelle Klangwanderung, von deren Namen man sich nicht abschrecken lassen sollte, wenn man kein Freund von Wanderungen ist. Denn eigentlich ist es mehr ein kleiner Rundgang, den auch nicht ganz so lauffreudige Besucher gut bewältigen können. In diesem Jahr sind dazu Jonathan Leibovitz und Maciej Kułakowski eingeladen, die ein dreiteiliges Programm von Komponisten mitgebracht haben, „die auf jeweils eigene Weise allen avantgardistischen Strömungen aus dem Wege gegangen sind“. Unter der Avantgarde versteht man in der so genannten neuen Musik, also der Musik, die zwischen 1910 und 1970 entstand, die Zeit der drastischen Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Musikströmung, die bis heute am Argwohn der breiten Bevölkerung gegenüber neuer Musik wohl den größten Anteil trägt.

Klarinettist Leibovitz ist in Tel Aviv geboren. Er begann seine musikalische Ausbildung an der Buchmann-Mehta-Musikschule, ehe er sein Master-Studium 2022 an der Musikakademie Basel abschloss. Der Cellist Kułakowski stammt aus Polen, wo er in einer Familie aus klassischen und Jazz-Musikern aufwuchs. Das Studium begann er an der Stanislaw-Moniuszko-Musikakademie in Danzig, setzte es in Mannheim und Weimar fort, ehe er ebenfalls 2022 seine Studien an der Kronberg-Akademie zum Abschluss brachte. Jetzt finden die beiden sich am Haus für Musiker ein, um dort im Innenhof den ersten Teil der Klangwanderung zu präsentieren. Es stehen acht Duos für Geige und Cello an, die der russische Komponist Reinhold Glière als Hommage an die Formen des Barocks geschaffen hat. Leibovitz hat den Violinpart für seine Klarinette umgeschrieben. In der Tat klingt die Musik recht barock und damit im Gegensatz zum Ort. Das Haus für Musiker ist ein Bau, den Raimund Abraham 2017 als Gebäude entwickelt hat, das an ein landendes oder gelandetes UFO erinnert. Ein Koloss, der sich über einer Bühne im Tiefkeller wölbt. Über dessen Sinnhaftigkeit und Bedeutung wird man sicher noch länger diskutieren als über die dort eben gehörte Musik.

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Um zur zweiten Station zu gelangen, geht es einen flachen Hügel hinauf zu einem Gebäude, das Erwin Heerich um die Jahrtausendwende geschaffen hat. Früher als Haus für Biophysik entstanden, bietet es heute Archiv und Bibliothek Raum. Der Würfel hat im unteren Teil zwei diagonale Aussparungen. Im Innenhof mit quadratischer Dachöffnung ergeben sich interessante Blickwinkel und Lichtspiele. Hier ziehen sich Leibovitz und Kułakowski in die windgeschützte Ecke zurück, um Rebecca Clarkes dreisätzige Hommage an die scheinbar vergangene Romantik aus dem Jahr 1941 aufzuführen. Ursprünglich für Bratsche und Klarinette geschrieben, hat Kułakowski den Viola-Part bei Prelude, Allegro und Pastorale für Cello eingerichtet. Großartige Musik. Ob man sie hier im Stehen und Durchzug so recht genießen kann, sei dahingestellt. Ob es am Alter der beiden Musiker oder dem auferlegten Schweigen liegt: Es will sich die richtige Atmosphäre nicht einstellen.

Nach bravem Applaus geht es weiter. Eigentlich wissen die wenigsten, wohin es nun geht. Das ist aber nicht weiter schlimm. So entdeckt man weitere Pfade auf dem Gelände und landet letztlich doch irgendwann vor der Veranstaltungshalle, wo sich die Tilapia befindet. Selbst eingefleischte Raketenstationäre werden einem die Frage nicht beantworten können, warum das 2001 nach Plänen von Katsuhito Nishikawa fertiggestellte Beton-Monument den Namen des Buntbarsches, also eines Fisches, trägt. Zwei Betonschalen, aus denen auf der einen eine Kuppel ragt, während auf dem anderen Teil die Kuppel umgedreht zu sein scheint. Aus dem von der Straße aus gesehen vorderen Teil befindet sich unter der Kuppel ein Amphitheater mit einer kleinen Bühne, die in den Raum hineinragt. Die beiden Musiker entscheiden sich gegen die Bühne und stellen sich auf die untere Ebene des Amphitheaters. Hier tragen sie die Suite Off Pist des Schweden Svante Henryson vor. Es wird wie vorher auch „vom Blatt“ gespielt. Das ist, wie auch vorher schon, bei aller Zurückhaltung zu wenig, zu brav, um das Publikum wirklich zu begeistern. Daran ändert auch die Zugabe nichts, eine Disco-Toccata von Guillaume Connesson aus dem Jahr 2002. Und damit stehen die beiden Musiker stellvertretend für das diesjährige Festival. Sieht man von der Messiaen-Interpretation des Grau Schumann Piano Duos und vielleicht noch vom Auftritt des Trio Recherche ab, bleibt die Veranstaltung in diesem Jahr atmosphärisch dünn. Wenn der Förderverein das Festival wirklich für eine breite Öffentlichkeit interessant gestalten will, liegt in den kommenden zwei Jahren viel Vorbereitung vor ihm. Dann heißt es, das Publikum einzuladen, mitzunehmen und in die Geheimnisse der aufgeführten Musik einzuweihen.

Die Zeiten, in denen es ausreichte, ein Konzert anzukündigen, damit das Publikum brav herantrabte, um den Musikern zu huldigen, sind nicht nur in Neuss endgültig vorbei. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Insel-Festival hat ein enormes Potenzial. Es an die Oberfläche zu spülen und eine Atmosphäre herzustellen, die sich wie Festival anfühlt, wird sicher eine aufregende Aufgabe für den Förderverein, wenn er Rainer Wiertz mit einem herausragenden Programm nicht allein lassen will.

Michael S. Zerban