O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Lieber auf Nummer sicher

EROICA
(Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven)

Besuch am
9. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss im Zeughaus, Neuss

In den letzten Sonnenstrahlen eines herrlichen Spätsommertages strömen hunderte von alten Menschen zum Zeughaus in Neuss. Berufstätige gehören zur Minderheit. Es ist das Publikum des ersten Abonnementkonzertes der Deutschen Kammerakademie Neuss, das sich zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren wieder hier versammelt. Gute Laune liegt in der Luft. Wer hier heute Abend erscheint, hat gefühlt die größte Herausforderung seit der Pest gesundheitlich mehr oder minder unbeschadet überstanden und ist stolz darauf, seit vielen Jahren Abonnent des Neusser Orchesters zu sein. Und die Vorfreude ist groß. Denn alles scheint zu sein wie früher. Selbst die über 200 Jahre alte Musik ist die gleiche geblieben.

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Heute Abend gibt es die Don-Giovanni-Ouvertüre in der von Mozart selbst komponierten Konzertversion, uraufgeführt 1787, die Prager Sinfonie, uraufgeführt im gleichen Jahr, und die Eroica, uraufgeführt 1804. Mozart und Beethoven, damit kann man nichts falsch machen. Für Orchestermanager Martin Jakubeit sind die Abonnentenzahlen wichtig, nicht das Alter des Publikums. Er weiß, dass er über ein erstklassiges Orchester verfügt. Und Chefdirigent Christoph Koncz hat gerade seinen Vertrag verlängert. Wenn er jetzt auch programmatisch auf Nummer sicher geht, kann doch eigentlich nichts mehr schiefgehen. Oder?

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es ein großartiges Konzert wird. Koncz braucht keine Partitur, um das hochengagierte Orchester mit markigem Dirigat durch den Abend zu geleiten. Ein lebendiger Konzertabend. In der Pause fließt der Alkohol in Strömen. Wenn man die Augen schließt, wähnt man sich im Kreis von Herren in schwarzen Fräcken und Damen in hochgeschlossenen Abendroben, egal, ob im Prager Gräflich Nostitzschen Nationaltheater oder im Theater an der Wien. Den Blick ins Programmheft muss man sich dabei allerdings ersparen. Denn dort gibt sich die Kammerakademie „modern“, indem sie sich der Ideologie der Sprachvergewaltigung und der gesellschaftlichen Spaltung anschließt und geltende Rechtschreibregeln missachtet. Das wirkt im Kontrast lächerlich, wenn der ansonsten so bewanderte Schreiber Matthias Corvin plötzlich das Gendern für sich entdeckt und weiter in der Broschüre gar Sternchen auftauchen, ohne dass man die Textstellen entdecken könnte, auf die sie verweisen.

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Was Jakubeit in Sachen Abonnentenzahlen und Modernität als Erfolg für sich verbucht, könnte von kurzer Dauer sein. Und damit steht er nicht allein. Denn natürlich sind die Alten in der Mehrheit, aber sie spielen in den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen eine immer kleinere Rolle. Und mit ihnen in einer aufgrund einer verfehlten Bildungspolitik zunehmend verdummenden Gesellschaft auch ihre Werte. Auch hier ist die Sprache ein gutes Beispiel. Hätten die nachfolgenden Generationen ordentlich Deutsch gelernt, hätten Minderheiten heute nicht den Hauch einer Chance, mit kruden Argumenten die Regeln der Sprache außer Kraft setzen zu wollen. Wohin führt uns also das Festhalten am Althergebrachten in der Kultur? Ins Abseits.

Es war absolut verständlich, dass Kulturinstitutionen nach dem ersten Shutdown zunächst um ihr Überleben kämpften. Was, das nur nebenbei, bei den einen oder anderen nicht ganz so schwer war, weil sie durch staatliche Budgets gut abgesichert waren. Was nahezu vollständig ausgeblieben ist, waren Antworten auf die Frage, was nach den staatlich angeordneten Auftrittsverboten passiert. Es schien für den überwiegenden Teil der Kulturmacher klar, dass es dann irgendwie weitergeht. Jetzt zeigt sich, dass „irgendwie“ und „weiter“ nicht ausreichen. Nach zwei Jahren mit Angeboten, die weitaus attraktiver scheinen als Theater- oder Konzertangebote, bleiben die Besucher den Kulturinstitutionen fern, die zudem immer mehr offenbaren, dass sie als eigenständige Blasen leben, die mit ihrem Umfeld nur noch denkbar wenig zu tun haben. Der Neubeginn blieb aus. Der Blick auf die neue Spielzeit ist erschreckend, wenn Immergleiches versucht, Neues anzuziehen oder besser: Altes wieder zurückzubringen. Und immerhin da bildet die Deutsche Kammerakademie Neuss eine der Ausnahmen, wenn sie nach diesem Konzert Ende Oktober ihre Klassik Lounge anbietet.

Ein neues Format in einer ungewöhnlichen Spielstätte, neu durchdachte Abläufe, der Hinweis auf ausreichende Parkplätze: Das könnte durchaus Anreiz sein, dass die Alten ihre Enkel und Urenkel auf diese Veranstaltung hinweisen. Bis dahin verlassen sie, kulturell gesättigt, ein ganz klein wenig angeschickert und rundherum zufrieden, den Kulturtempel, der an diesem Abend nur eine junge Mutter mit ihrem Kind angelockt hat.

Michael S. Zerban