O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jeanette Bak

Aktuelle Aufführungen

Sport in der Stadthalle

THE DYING SWANS LIVE EXPERIENCE
(Eric Gauthier et al.)

Besuch am
13. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Internationale Tanzwochen Neuss, Stadthalle

Weder im Leverkusener Forum noch in der Neusser Stadthalle darf während einer Spielzeit eine Einladung an die Gauthier Dance Company fehlen. Das sehen Veranstalter wie Besucher so. Eric Gauthier wurde in Kanada geboren, studierte Tanz, Musik und Gesang in Montreal und Toronto. Nach einer tänzerischen Karriere, die ihn nach Stuttgart und von dort nach Europa führte, gründete er 2007 die Gauthier Dance Company am Theaterhaus Stuttgart. Mit ihm an der Spitze feiert das Ensemble Erfolg um Erfolg. Inzwischen hat er die Tanzschuhe an den Nagel gehängt. Einerseits, um mehr Zeit für die Familie zu haben, andererseits hat er als Choreograf und Visionär so viele Ideen, dass es eine Schande wäre, die gegen tägliches Tanztraining auf der Probenbühne einzutauschen. Dass er überdies ein glühender Motivator ist, hat er nicht nur online als „Tanzlehrer“ bewiesen, sondern wird er auch heute bei seinem Auftritt bei den Internationalen Tanzwochen Neuss zeigen. Hätte ihn sein Lebensweg nicht zum Tanz gebracht, hätte er vermutlich viel Geld als Tupperware-Vertreter verdienen können.

Nachdem in Deutschland die vierte Corona-Welle in nie gekanntem Ausmaß – zumindest, wenn man den in den Medien mitgeteilten Zahlen Glauben schenken darf – um sich greift, entstehen in Neuss wie an anderen Orten seltsame Szenarien. In Köln feierten mehr als 10.000 Menschen den Karnevalsbeginn, weil sie ja genesen, getestet oder geimpft waren. Infektionszahlen von dort werden, wie üblich, nicht verkündet werden. In der Neusser Stadthalle stehen die Menschen unmaskiert dicht an dicht im Foyer, Hauptsache, das Catering läuft wieder, ehe sie sich ohne Maske Platz an Platz im Saal aneinanderreihen. Das widerspricht jeder Logik. Und das sehen etliche Menschen auch so, denn es bleiben doch eine ganze Reihe Plätze unbesetzt. Ein Zustand, den die Gauthier Dance Company bei ihren Besuchen dort nicht kennt. Aber die Stimmung ist gut.

Die Bühne ist ungewöhnlich gebaut. Vor der Hauptbühne ist ein Gaze-Vorhang heruntergelassen, der Projektionen ermöglicht, die sich auf dem Hintergrund wiederholen. Eric Gauthier betritt die Bühne und erzählt, dass heute alles ganz anders werden wird, als es die Besucher gewöhnt sind. Als im Februar dieses Jahres die Frühjahrstournee von Gauthier Dance Company abgesagt werden musste, stand der Chef 16 Tänzern gegenüber, die betrübt die Köpfe hängenließen. Was sollte er tun? Liebgewonnene und vor allem bestens ausgebildete Tänzer ihrem Schicksal überlassen? Doch ganz sicher nicht. Gauthier prüfte, welchen Handlungsspielraum es gab. Und dabei half ihm die Trübsal seiner Mitstreiter.

Der sterbende Schwan war eine Sensation. Im Jahr 1905, als Michel Fokine das etwa dreiminütige Solo für die Primaballerina Anna Pawlowa auf das Cello-Solo Le cygne – Der Schwan – aus dem Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns von 1886 choreografierte. Die Bewegungssprache war völlig neu. Bis heute berühren die flatternden Bewegungen der Arme und die Pas de bourrée, die schnellen Schritte auf der Spitze, das Publikum. Insbesondere die Schlusspose auf dem linken Knie, während der über dem vorgestreckten rechten Bein die Arme wie Flügel zusammengelegt werden und der Kopf darin geborgen wird, gehört zu den Bewegungen, die auch heute noch das Publikum zu Jauchzern bewegt, insbesondere wenn die Primaballerinen dieser Welt formvollendet zu Boden sinken. Pawlowa soll das Solo übrigens 4.000 Mal getanzt haben. Kann man diesen Tanz in die Gegenwart übertragen? Es gibt wohl keinen Ballett-Fan, der das bejahte. Gauthier ist sich da nicht so sicher.

Foto © Jeanette Bak

Er beauftragte für jeden seiner Tänzer einen Choreografen, der den Tanz neu interpretiert, einen Komponisten, der das Thema neu erfindet und Filmemacher, die eine neue Filmsprache finden. Binnen kürzester Zeit fand er Geldgeber. 64 Künstler waren damit weiter im Lohn. Es waren natürlich erheblich mehr, weil an all diesen Positionen wiederum Menschen hängen. Welch ein Glück. The Dying Swans Project war geboren und konnte binnen kürzester Zeit online gehen. Bis heute sind die Filme auf dem YouTube-Kanal des Theaterhauses Stuttgart zu finden. Das reicht den Künstlern nicht, obwohl sie häufig mit ihren Online-Projekten ein Vielfaches an Zuschauern erreicht haben. Auch Gauthier entwickelte aus seinem Projekt ein Stück, das er als The Dying Swans Live Experience jetzt in Neuss auf die Bühne bringt, nachdem sein Projekt bereits mehrere Preise einfahren konnte. Und er glaubt, beweisen zu können, dass er die Menschen live mehr begeistern kann. In der Stadthalle sind es gefühlt gerade mal 1.000. Und trotzdem weiß man am Ende des Abends, was Gauthier meint. Er hat eine Mischung aus Kinoabend und Live-Auftritt entwickelt.

Nora Brown tritt im Kostüm auf, dass dem Originalkostüm von Léon Bakst nachempfunden ist. Gauthier hat für sie eine Choreografie entwickelt, die möglichst nah an das Original herankommen soll. Hier wird die Faszination Anfang des 20. Jahrhunderts nachempfunden und konzentriert wiederhergestellt. Um es schon mal zu sagen: Es ist der stärkste Beitrag des Abends. Nach einer frenetischen Begrüßung des Stuttgarter Choreografen gibt es Stellungnahmen von Polina Semionova und Diana Vishneva, die momentan vielleicht wichtigsten lebendigen sterbenden Schwäne. Was sollen sie sagen? Dass der sterbende Schwan eine wichtige Station ist, dass man sich als Tänzerin ganz und gar in der Rolle verliert? Das sagen sie auch in den eingespielten Sequenzen. Schön. Das hätte man auch auf dem heimischen Computer nachvollziehen können. Man stelle sich vor, Semionova wäre aufgetreten und hätte Rede und Antwort gestanden. Aber das ist bei solchen Veranstaltungen halt nicht vorgesehen. Es gibt weitere Clips, die einen Einblick in die Probenarbeiten, aber auch die Arbeiten der Bühnentechniker geben. Gauthier feiert sie alle.

Anschließend gibt es im Wechsel künstlerisch wertvolle Filme und Einzelchoreografien auf der Bühne. Immer kurz, bevor man denkt, jetzt reicht es aber mit dem Film, kommt auch schon der nächste Live-Auftritt. Es ist die perfekte Schau. Nach der Präsentation der Höchstleistungen seiner Tänzer fordert Gauthier das Publikum auf, Gesten seiner Tänzer zu wiederholen. Das Publikum ist restlos begeistert. Egal welchen Alters erheben sich die Besucher, um den Anweisungen des Choreografen zu folgen. Er hat aus den Videos und Live-Aufführungen seiner Tänzer eine Choreografie für die Gäste kondensiert. Die werden nun eingeübt. Was für ein Abend! Gauthier gelingt es einmal mehr, einen der absoluten Höhepunkte bei den Internationalen Tanzwochen Neuss zu setzen.

Das Publikum ergeht sich in Bravo-Rufen und stehendem Applaus.

Michael S. Zerban