O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Todd MacDonald

Aktuelle Aufführungen

Brutaler Abschied

DOUBLE MURDER
(Hofesh Shechter)

Besuch am
1. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Tanzwochen Neuss, Stadthalle Neuss

Reiner Breuer ist nicht als Kulturkenner oder -liebhaber bekannt. Nun kann man ihm zugutehalten, dass dafür auch wenig Zeit bleibt. Denn er ist Bürgermeister der Stadt Neuss und kämpft derzeit darum, die Stadt davor zu bewahren, unter Haushaltsaufsicht gestellt zu werden. Die Wahl der Waffen allerdings ist ausgesprochen diskussionswürdig. Es gehört ja bei kommunalen Sparplänen immer zu den ersten Diskussionspunkten, wo bei der Kultur gespart werden kann, weil sie zu den „freiwilligen Leistungen der Gemeinde“ zählt. Leider ein oft falsch verstandener Begriff. Das ist auch in Neuss nicht anders. Von dort hört man, dass die Internationalen Tanzwochen Neuss ersatzlos mit dem Ende der Saison 2022/23 gestrichen werden sollen. Damit will man sage und schreibe 190.000 Euro einsparen. Die Ersparnis ist marginal, der zu erwartende Image-Schaden für die Stadt immens.

Foto © Todd MacDonald

Seit 40 Jahren gibt es die Internationalen Tanzwochen Neuss als „Forum des internationalen zeitgenössischen Tanzgeschehens in aktuellen Choreografien und Inszenierungen“. Längst haben die Veranstaltungen, die jeweils von Oktober bis März in der Stadthalle stattfanden, überregionale Bedeutung erlangt. Seitdem die Sparpläne bekannt wurden, wird in Neuss gemauert. Selbst die Tageszeitung schweigt über die entsprechenden Ratsbeschlüsse. Schön, dass die Stadt sich auf die Redaktion verlassen kann. Derweil schafft das Kulturamt Fakten. Die Internetadresse Tanzwochen.de ist geräumt und auf das Kulturamt umgeleitet, wo gerade noch Informationen über die Aufführungsdaten der zu Ende gehenden Saison abgerufen werden können, wobei das „International“ gleich mal gestrichen wurde. Seit der Pensionierung von Rainer Wiertz fehlt dort ohnehin Fachkompetenz in Sachen Tanz. Da wird man möglicherweise über diese Entwicklungen gar nicht böse sein. Natürlich ist das zu kurz gedacht. Über Umwegrentabilität, attraktive Arbeitsplätze und die Lebensqualität in der Stadt ist an anderer Stelle ausführlich berichtet worden, das soll hier nicht alles noch einmal ausgewalzt werden. Klar ist aber, dass, sollte der Beschluss Wirklichkeit werden oder geworden sein, Breuer der Stadt erheblichen Schaden zufügen wird, auch wenn der – zunächst – nicht an der Supermarktkasse eingetippt werden kann. Und wie immer in solchen Fällen gilt: Ist die Spirale erst einmal angeworfen, wird die Geschwindigkeit auf dem Weg nach unten schneller und schneller.

Immerhin verabschiedet sich der internationale zeitgenössische Tanz hier mit Würde. Die Stadthalle ist ausverkauft. Man kann sich die gemischten Gefühle des Personals vorstellen, mit denen es die Schilder „Ausverkauft“ an den Eingangstüren anbrachte. Wenn es nach 40 Jahren wirklich die letzte Vorstellung sein sollte, wollen daran noch einmal möglichst viele Menschen teilhaben. Zu Gast ist heute die Hofesh Shechter Company aus London. Und wie es sich für Gastspiele gehört, haben die Tänzer nicht die geringste Ahnung von dem, was in Neuss passiert, sondern leben in ihrer eigenen Blase. Und da herrscht die Freude vor, dass die Pandemie ausgestanden zu sein scheint. Da wird dem Publikum auf Englisch davon berichtet, wie erfreut die Company ist, endlich wieder auf der Bühne, im Theater, auch in Deutschland zu sein. Wie froh man sei, wieder den Normal-Zustand erreicht zu haben. „Das neue Normal!“ erschallt es aus dem Hintergrund. Und deshalb, sagt der Tänzer, habe man sich überlegt, das Publikum zu integrieren. Das übliche Kasperle-Spiel beginnt, und das Publikum steigt darauf ein, dass eine Fankurve beim Fußball vor Neid erblassen könnte. Viel schöner ist aber, dass der Einstieg eine Choreografie auf den Cancan von Jacques Offenbach zur Folge hat. Da geht es im Publikum schnell zum Siedepunkt.

Foto © Todd MacDonald

Dabei steht „lustig“ an diesem Abend eigentlich ganz unten auf der Liste. Doppelmord lautet der Titel des Doppelabends, der mit Clowns beginnt. Das Stück soll „ein sarkastischer Kommentar auf die zunehmende Gleichgültigkeit unserer Gesellschaft gegenüber Gewalt“ sein. Eine steile These. Ist unsere Gesellschaft „zunehmend gleichgültig“ gegenüber Gewalt oder einfach nur ohnmächtig, weil die Politik keine Rezepte dagegen zu setzen hat? Ein seltsam ohnmächtiges Gefühl stellt sich auch an diesem Abend ein. Die Musik erinnert mit ihren Trommeln an alte Indianerfilme. Und auch der lockere Hüftschwung der Tänzer lässt einen an Schwarzweiß-Bilder von Indianern beim Tanz um das Lagerfeuer denken. Wunderbar leicht, wunderbar fröhlich, während in jeder zweiten Szene oder später in jeder Szene auf der Bühne Menschen massakriert werden. Die unter die Haut gehende Musik hat Shechter selbst komponiert. Lee Curran und Richard Godin teilen mit ihrem Licht, das sie immer wieder erlöschen lassen, das Stück in Szenen ein, in denen Menschen andeutungsweise durch einen Kehlschnitt, einen Kopfschuss, mit Pfeil und Bogen oder durch Erhängen zu Tode kommen. Shechter selbst führt auf der Bühne spielerisch eine Gewalttätigkeit vor, gegen die sich der Zuschauer nicht wehren kann. Und er trägt selbst zur Verharmlosung bei, wenn er den Tänzern eine großartige Bewegungssprache verordnet, die Gewalt als Spiel verortet. Tänzerisch ist das eindrucksvoll, inhaltlich kann man darüber lange diskutieren. Hervorragend ist aber unbedingt die Choreografie, mit der die Tänzer mit dem überbordenden Applaus umgehen.

Der zweite Teil des Abends fällt stark ab. Shechter scheint hier eher lautstarke, von Gesang dominierte Musik zu bebildern als eine Choreografie mit Musik zu unterstreichen. LED-Scheinwerfer von Tom Visser rahmen die Tänzer ein, die minutenlang in Yoga- oder ähnlichen Stellungen verharren. Der Abend löst sich in Harmonie und Weltfrieden auf, insbesondere, wenn die Tänzer zum Ende die Bühne verlassen, um Besucher zu umarmen. Wenn ein Gastspiel so endet, lieben die Zuschauer es. Da hält es kaum jemanden im vollbesetzten Saal auf den Stühlen. Ein überzeugender Abschluss von 40 Jahren Tanzwochen.

Rainer Breuer sitzt an diesem Abend vielleicht eher über Haushaltsbüchern, anstatt sich um die kulturellen Bedürfnisse seiner Mitbewohner und die Lebensqualität der Stadt Neuss zu kümmern. Das steht ihm ja auch zu, denn ein Bürgermeister kann für seine Handlungen nicht haftbar gemacht werden. Für Neuss bedeutet das nichts Gutes. Das steht nach diesem Abend, mit dem die Tanzwochen 2022/23 beendet sind, fest.

Michael S. Zerban