O-Ton

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Foto © David Vinco

Aktuelle Aufführungen

Derwische und Akrobaten

CE QUE LE JOUR DOIT À LA NUIT
(Hervé Koubi)

Besuch am
9. März 2022
(Einmaliges Gastspiel)

 

Internationale Tanzwochen Neuss, Stadthalle

Ausgesprochen durchmischte Internationale Tanzwochen Neuss gehen zu Ende. Die letzte Veranstaltung in der Stadthalle Neuss steht an diesem Abend an. Und deshalb steht ein Name auf dem Programmzettel, der magische Zugkraft besitzt. Hervé Koubi hat mit seiner Compagnie seinen Besuch angekündigt. Und es ist vermutlich der bestbesuchte Abend der gesamten Saison.

Die Überraschung erfolgt zu Beginn des Abends. Choreograf Koubi selbst ist mit angereist. Das ist ungewöhnlich, wenn ein Uralt-Programm von 2013 gezeigt wird, das dazu bereits 2015 schon einmal in Neuss gezeigt wurde. Aber vielleicht ist es gerade die richtige Entscheidung, um die Zeitlosigkeit der Choreografie zu unterstreichen. Und seine Ansprache vor Beginn der Aufführung berührt das Publikum sichtlich. Koubi ist in Cannes geboren. Hervé ist ein Allerweltsvorname in Frankreich, etwa so wie François. Erst spät fiel ihm auf, dass Koubi nicht ganz so französisch klingt. Also fragte er seine Eltern nach seiner Herkunft, die mit ausgesprochen spärlichen Antworten aufwarteten. Schließlich legte ihm sein Vater ein altes, vergilbtes Foto hin, das einen alten Menschen in arabischen Gewändern zeigte. „Dein Urgroßvater“, sagte er. Koubi war also kein „richtiger Franzose“, sondern hatte seine Wurzeln in Algerien. Der promovierte Pharmazeut, der sich erst spät für eine Laufbahn als Tänzer und späterhin Choreograf entschied, seit vielen Jahren eine eigene Compagnie mit Sitz in Cannes, Calais und Brive beschäftigt, begann sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. So weit seine Erzählung, die er auf Deutsch vom Zettel abliest, was im positiven Sinne ein besonderes Vergnügen bereitet. „Geschichte wiederholt sich“, beschließt er seine Worte. Und noch ehe sich der Vorhang geöffnet hat, brandet großer, liebevoller Applaus in der Stadthalle auf.

2008 veröffentlichte Yasmina Khadra seinen Roman Ce que le jour doit à la nuit, auf Deutsch Die Schuld des Tages an die Nacht. Darin erzählte der Algerier Younes in Rückblicken von der Zeit von 1930 über den algerischen Bürgerkrieg bis 1962. Seine Erzählung ist koloniales und revolutionäres Drama „wie auch eine ungeschminkte, zärtliche und bittere Hommage an das Algerien vor der Unabhängigkeit und nicht zuletzt ein großer Liebesroman, der die doppelt unerfüllte Sehnsucht nach Harmonie im Privaten und in der Gesellschaft beschreibt“, sagt das Haus der Kulturen der Welt. Heute gilt das Buch als Schlüsselroman über die Geschichte Frankreichs und Algeriens. Koubi diente es als Grundlage für seine gleichnamige Choreografie, die am 31. Januar 2013 ihre Uraufführung im Pavillon Noir im französischen Aix-en-Provence feierte.

„Ich fühle wie ein Orientalist des 19. Jahrhunderts, der nach Algerien kommt, um seinen Fantasien des Orients Leben einzuhauchen. Ich würde gerne meine Träume Wirklichkeit werden lassen als ein in Frankreich geborenes Kind, das seine wahre Identität und die seiner Eltern erst spät entdeckt hat“, sagt Koubi über seine Arbeit. Wie schön, dass er keine klare Linie gefunden hat, sondern sich mit seinen Gefühlen treiben lässt.

Foto © Nathalie Sternalski

Aus einem Knäuel in der Bühnenmitte lösen sich nach und nach 15 Tänzer. Guillaume Gabriel hat sie in weiße Hosen und weiße Leinenröcke gekleidet, die nackten Oberkörper glänzen alsbald im Schweiß der Anstrengungen, die Koubi ihnen auferlegt. Lionel Buzonie hat ein fantastisches Weißlicht in allen Variationen entworfen, um sie in jedem Moment wunderbar auszuleuchten. Auch ohne große Überraschungseffekte gelingt es ihm, die Tänzer dramaturgisch zu unterstützen. Koubi gelingt es, eine Traumwelt zu inszenieren, die nahezu über den gesamten Zeitraum einer Stunde trägt. Zwischen geradezu balletthaften Auftritten toben sich die ehemaligen Straßentänzer aus allen Winkeln der Welt mit akrobatischen Leistungen aus. Ob das Drehen auf dem Kopf, rasende Drehungen im Handstand oder einhändigen Handstand, Salti – es gibt kaum eine Freiluftbewegung, die hier nicht stattfindet. Dazwischen werden Hebefiguren eingebaut. Und dann gibt es wieder ganz ruhige Versammlungen. Vom Treffen in der Hafenkneipe über Hiphopper auf der Straße bis zu den religiösen Tänzen der Derwische ist hier alles vertreten. Immer aber ist die geballte Kraft der Künstler spürbar. Der Sog des Überirdischen wird hier spürbar, egal, ob der Tanz zur Musik oder in der Stille stattfindet.

Maxime Bodson untermalt mit einer Eigenkomposition, in die Musiken von Hamza El Din mit dem Kronos-Quartett, von Johann Sebastian Bach und Sufi-Melodien einfließen. Da gibt es lange Passagen, die von Trommeln, Oud und Nei geprägt sind, die Besucher ebenso fesseln wie das Geschehen auf der Bühne. Dabei gönnt sich Bodson alles, was die Festplatte hergibt. Stereoeffekte wie Murmelgeräusche werden eingestreut, um das Geschehen zu intensivieren.

Ein wundervoller Abend, der die Internationalen Tanzwochen Neuss zu einem versöhnlichen Ende bringt. Das Publikum bedankt sich mit allem, was das Applaus-Barometer hergibt. Wie es mit den Tanzaufführungen in der Neusser Stadthalle weitergeht, wird dann im September zu erfahren sein.

Michael S. Zerban