Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DAS BALLHAUS
(Jean-Claude Penchenat)
Besuch am
29. April 2023
(Premiere)
1975 gründete der Schauspieler und Regisseur Jean-Claude Penchenat in einem Pariser Vorort das Théâtre du Campagnol. Sechs Jahre später kam es zur Uraufführung von Le Bal – der Tanzpalast, ein Stück, das das Ensemble um Penchenat als Kollektiv erarbeitete. Zwei Jahre später erlangte es weltweit Aufsehen. 1983 verfilmte Ettore Scola das Werk. Der Truppe des Théâtre du Campagnol konnte es recht sein, schließlich besetzte Scola den Film großenteils mit ihnen. Das Besondere an Theaterstück und Film: Es gibt keine Dialoge; die Handlung wird ausschließlich durch das Spiel der Darsteller vermittelt.
Foto © Marco Piecuch
Damit ist Le Bal ein Paradestück für die Reihe „Wortloses Theater“ im Rheinischen Landestheater Neuss. Jochen Schölch hat das Stück für die alten Bundesländer bearbeitet. Jetzt kommt das Stück unter dem Titel Das Ballhaus in Neuss auf die Bühne. Die Idee ist so einfach wie genial. Ein Tanzlokal dient als örtlicher Rahmen für die Geschichte Westdeutschlands, die Menschen im Tanzlokal als Spiegel der Ereignisse. Für die Bühne und Kostüme sorgt Franziska Smolarek. Art-Deco-Säulen schmücken den Raum, im Hintergrund gibt es den Haupteingang mit Treppenstufen. Links daneben der Ausgang zum Toilettenbereich. Auf der linken Seite steht ein Klavier, das ausschließlich der Dekoration dient. Davor ein paar Tische mit Stühlen. Auf der rechten Seite gibt es eine Bar mit Hockern davor. Im Laufe der Jahre werden Einrichtungsgegenstände ihren Standort verändern, neue technische Errungenschaften dazukommen und so sehr subtil die Änderung der Zeiten kenntlich machen. Mindestens so fantasievoll wie die Raumausstattung sind die Kostüme. Hier gibt es für Smolarek gleich eine zweifache Herausforderung. Sie muss den Zeitgeist der jeweiligen Epoche, aber auch das Altern der Akteure berücksichtigen. Das gelingt ihr hervorragend. Da wird jedes Kostüm zum Augenschmaus. Und so gelingt es ohne Schwierigkeiten, die Darsteller zu typisieren. Ein eigenes Profil zu entwickeln, gelingt schon aufgrund der Vielzahl der Rollen, die die einzelnen Akteure zu absolvieren haben, kaum.
Wenn Regisseur Jan Käfer sich nicht um Worte und Dialoge kümmern muss, bedeutet das keineswegs eine Erleichterung seiner Arbeit. Denn er hat nicht nur eine Menge Personal zu bewegen, sondern vor allem darauf aufzupassen, dass die Aktionen der Darsteller so aussagekräftig sind, dass sie eben Worte überflüssig erscheinen lassen. An zwei Stellen „patzt“ er gewaltig. Wenn vom Band die „größte öffentlich vorgetragene Lüge des Führers“ erklingt: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Die Reichstagsrede Adolf Hitlers am 1. September 1939 wurde im Radio übertragen und ist im „wortlosen Theater“ so deutlich zu hören wie der Kommentator Herbert Zimmermann, als Helmut Rahn 1954 das dritte Tor gegen Ungarn erzielt und Deutschland damit zum Fußball-Weltmeister wird. Man versteht, warum der Regisseur da nicht widerstehen kann, aber genau das war ja eigentlich nicht Sinn der Sache. Auch sonst kommt er nicht ohne Worte aus, enthält sie aber dem Publikum vor, wenn sich die Darsteller der Einfachheit halber etwas ins Ohr flüstern.
Foto © Marco Piecuch
Auch Myriam Lifka nimmt es mit den Regeln nicht so genau. Die Choreografin lässt bei den Tanzschritten gern mal fünfe gerade sein. Als ein Walzer erklingt, ist man wahrhaftig erstaunt, welche Takte die Tänzer da gerade so hören. Von Dreivierteln ist nur wenig zu sehen. Auch bei den Tanzschritten gibt es wahrhaft fantasievolle Entwicklungen. Das soll einem aber den Spaß nicht verderben. Die Akteure entfalten gerade als Ensemble beachtliche Wirkung, und es gelingt ihnen, das Publikum zu begeistern. Hier und da fehlt es durchaus an Eleganz, aber das sollte sich bei den Folgevorstellungen mit ein wenig mehr Praxis durchaus hinbiegen.
Über die Musik kann man ins Grübeln geraten. Timo Willecke spielt sie als Originalaufnahmen von der Festplatte ab, so, wie es übrigens in der Originalvorlage vorgesehen ist. Da lässt das Klangbild mitunter zu wünschen übrig. Was wäre, wenn die Theatermusiker die Stücke in eigenen Arrangements eingespielt hätten? Ein Gedankengang, den man sicher diskutieren kann, weil es dann statt eines Haufens Gema-Gebühren mehr Eigenleistung gegeben hätte. Dem kann man das Argument der Authentizität entgegenhalten. Es ist, wie es ist, und das Publikum hat richtig Spaß. Es ändert auch nichts daran, dass man eine Menge wunderbarer Musik zu hören bekommt.
Nach eindreiviertel Stunden inklusive Pause haben die Zuschauer einen abwechslungsreichen Ausflug in das vergangene Jahrhundert der Bundesrepublik erlebt, in dem wichtige Ereignisse zwischen etwa 1920 und 1990 erinnert werden. Im Schluss-Potpourri gibt es ein mitreißendes Finale. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wächst die Lust, durchaus noch mal Entwicklungen und Ereignisse nachzulesen. Zum Beispiel, warum Baby im Film Dirty Dancing die Melone unter dem Arm trägt … Moment, das war doch ein amerikanischer Film? Ja, auch das gehört zur deutschen Wirklichkeit.
Michael S. Zerban