O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Russische Klänge einer Iranerin

ABOUT APHRODITE
(About Aphrodite)

Besuch am
3. August 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Stadt Neuss, Globe-Theater

Der Kulturgarten Neuss läuft. Mehr oder minder gut. Jetzt schon zeigt sich: Die Anfangszeiten, die sich an Sommerferien orientierten, funktionieren eher schlecht als recht. Ein Konzert, das um halb sechs am Abend beginnt, hat kaum Chancen auf zahlreiche Besucher. Wer hier pünktlich sein will, muss durch den Berufsverkehr, der derzeit um den Verkehr der Daheimgebliebenen bereichert wird, und entsprechend früh aufbrechen. Da scheint die Lust gegen Null zu sinken. So auch bei den Dienstleistern, die sich in Form von Imbiss- und Getränkestand anbieten, aber erst um halb sechs mit dem Aufbau fertig sind. Das wirkt ein wenig trostlos, wenn man den Vorplatz des Globe-Theaters erreicht. Geradezu martialisch dagegen der Aufbau des Personals, das über den Eingang zum Führring wacht. Der Führring ist eine Fläche neben dem Globe-Theater, ursprünglich zum Aufwärmen der Rennpferde gedacht, inzwischen als neue Spielstätte des Kulturgartens eingerichtet. Hier hat man sich zu registrieren, die Einlasskontrolle zu passieren, um das Rasenstück zu erreichen. Eigentlich könnte man auch einfach davor stehenbleiben, um die Aufführung zu erleben. Aber natürlich möchte man lieber auf einer der Sitzgelegenheiten Platz nehmen – Liegestühle oder Bierbänke – um das Programm des Kulturgartens zu genießen. Und die Eintrittspreise sind ausgesprochen moderat. Das Personal, das da wie ein Bollwerk aufgebaut ist, erweist sich allerdings als über die Maßen nett und zuvorkommend, so dass es eher eine Freude ist, die Barrieren zu überwinden.

Trotzdem haben sich nur wenig Besucher anlocken lassen. Oder sind für einen Montagabend 22 Besucher zuzüglich Personal vielleicht doch zufriedenstellend beim ersten Durchlauf eines neuen Festivals, das in aller Kürze angekündigt wurde? Die Akteure auf der Bühne jedenfalls lassen sich mit keinem Deut anmerken, dass sie vor einem mehr als halbleeren Auditorium spielen. Und das, obwohl sie an diesem Abend ein besonderes Schmankerl präsentieren. About Aphrodite ist ein Trio, wie es das Leben manchmal zusammenbringt. Fast fühlt man sich an einen französischen Spielfilm erinnert. Gilda Razani ist im Iran geboren und kommt als Kind nach Bochum. Später studiert sie Saxofon in Detmold, lernt den Jazzpianisten und Komponisten Hans Wanning kennen, den sie heiratet. Sie zieht mit ihm nach Dortmund; als die Mutter stirbt, geht es zurück nach Bochum ins Elternhaus. Ungeklärt ist bis heute ihre Liebe zu russischen Instrumenten. Bald gesellt sich Jaime Moraga Vasquez zu ihnen, ein chilenischer Schlagzeuger, der in Neuss lebt und arbeitet. Am 30. Oktober wird Future Memories, ihr neues Album, veröffentlicht. Das Besondere: Das Neusser Publikum bekommt diese Musik schon heute zu hören.

Gilda Razani – Foto © O-Ton

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Im Kulturgarten Neuss schleppen die Musiker eine Unmenge an elektronischen Instrumenten für ein einstündiges Konzert auf die Bühne – und es wird auch keine Verlängerung geben, so gewollt sie auch immer sein mag, denn die nächste Band wartet schon – und präsentiert ein brandneues Programm. Was mehr könnte Menschen bewegen, in das Konzert zu gehen? Vielleicht noch die Wahl der Instrumente. Denn Razani spielt im Wechsel Sopransaxofon, das Theremin und die Soma Pipe. Bei mindestens zweien dieser Instrumente werden vermutlich 95 Prozent der deutschen Bevölkerung fragen: Was ist das denn? Dabei ist das Theremin bereits hundert Jahre alt. Ein wirklich faszinierendes Instrument, das Lew Termen erfand und das lange Zeit ein Schattendasein fristete. Vielleicht, weil es so ungewöhnlich ist. Es ist nämlich das einzige Instrument, bei dem weder Saiten berührt werden noch Luft in einen Gegenstand geblasen wird. Die Hände bewegen sich frei zwischen zwei Antennen. Es sieht ein wenig nach Zauberei aus, funktioniert aber ausgesprochen präzise und verlangt dem Spieler ein völlig anderes Verständnis von Instrumenten ab. Jeder Fehlgriff allerdings wird hier genauso unbarmherzig geahndet wie bei jedem anderen Instrument auch. Die Soma Pipe ist eine Neuentwicklung der russischen Firma Soma, die mit der menschlichen Stimme allerlei erstaunliche Effekte bewirkt und deren Geheimnisse längst nicht ultimativ erforscht sind.

Damit trifft sie genau die Vorliebe von Razani: Die Verbindung von organischem Material und elektronischer Musik. Mit Wanning und Vasquez hat sie kongeniale Partner gefunden, die ihr zwischen zwei Rhythmusinstrumenten ein wunderbares Ausleben ermöglichen. Kategorisieren will Razani die Musik nicht. Cross-over sei es, sagt sie lapidar, ungeachtet der Missliebigkeit des Publikums gegenüber diesem Begriff. Und tatsächlich möchte man dem Begriff – oder der Kategorie – widersprechen. Gern lässt man sich im Führring vor dem Globe-Theater auf diese Musik ein. Da fühlt man sich erinnert an Genesis, Pink Floyd oder Tony Banks, ohne dass das Trio damit an Eigenständigkeit einbüßt. Ist es Jazz, ist es elektronische Musik? Razani ist zufrieden, wenn beide Begriffe fallen. Schließlich beinhaltet ihre Art der Musik ein gebündelt Maß an Improvisation. Längst hat das Publikum in den Liegestühlen die Augen geschlossen, um sich auf das Fließen der Musik einzulassen, ungewohnte Klänge inklusive. Dem sechsjährigen Mädchen hingegen sieht man es nach, dass es nach einer Stunde endlich nach Hause möchte. Alle anderen erwachen kurz darauf aus den mitunter sphärischen Klängen. Ein wunderbares Sommerprogramm, das für den Kulturgarten wie geschaffen ist. Mit solch kostbaren Angeboten kann es weitergehen.

Michael S. Zerban