O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Gilles Abegg

Aktuelle Aufführungen

Im Labyrinth des Bösen

IL PALAZZO INCANTATO
(Luigi Rossi)

Besuch am 5. Oktober 2021
(Premiere am 3. Oktober 2021)

 

Opéra National de Lorraine, Nancy

Die Opéra National de Lorraine am malerischen Place Stanislas im Herzen Nancys kann es an Pracht gewiss mit dem römischen Palazzo Barberini aufnehmen, in dem 1642 Luigi Rossis Musica per dramma in drei Akten Il Palazzo Incantato – Der verzauberte Palast – aus der Taufe gehoben wurde. Mit allem Pomp, mit dem die frühbarocke Oper im Auftrag des Kardinals Barberini beeindrucken konnte. 27 Solorollen, Ballett, Chor, großes Orchester, Bühnentechnik und Kostüme vom Feinsten wurden für die damals siebenstündige Aufführung aufgeboten. Zwei Jahre nach der Uraufführung machte der neue asketische Papst Innozenz X. der sinnlich überbordenden Theaterszene Roms ein Ende. Rossis „verzauberter Palast“ geriet in Vergessenheit. Bis zum letzten Jahr, als der argentinische Dirigent und Musikforscher Leonardo Garciá Alarcón das Werk exhumierte und in liebevoller Detailarbeit für die Opéra de Dijon aufbereitete. Zugleich als Abschluss einer barocken Trilogie und zum Abschied des Operndirektors Laurent Joyeux, der das Haus dreizehn Jahre mit Erfolg geführt hat.

Allerdings musste man sich in Dijon noch mit einer gestreamten Version begnügen. In den Genuss einer Live-Performance kommt jetzt das Publikum von Nancy, bevor die Produktion auch noch in Versailles gezeigt wird. Regisseur Fabrice Murgia, der mehrfach an der Opéra Royal de Wallonie in Lüttich hervorgetreten ist, stellt eine enge Beziehung zwischen dem „verzauberten Palast“ und den schwierigen Probenbedingungen unter der Pandemie her: „In Wirklichkeit ist dieser Palazzo zu einer Art Metapher für die Situation draußen geworden! Wir sind hier, in der Oper, arbeiten in Gefangenschaft, während wir Szenen proben, die die Figuren in einen Palast versetzen, der auf seine Weise eine soziale Distanzierung herstellt, die sie trennt und sie daran hindert, sich zu finden, sich zu lieben, sich zu umarmen. Ich glaube, dass diese Reflexion unserer äußeren Situation, innerhalb der Intimität der Bühne, Einfluss auf unsere Interpretation nehmen wird.“

Mittlerweile hat sich das „Gefängnis“ wenigstens für die Künstler geöffnet. Das magische Schloss des zwielichtigen Zauberers Atlante bleibt für die irrenden Liebenden in Rossis Oper jedoch eine Falle, aus der sie sich erst nach vier langen (Aufführungs-)Stunden befreien können. Dass barocke Handlungen mit Verwicklungen gespickt sind, ist bekannt. Der Librettist Giulio Rospigliosi, niemand Geringerer als der zukünftige Papst Clemens IX., erweist sich als geradezu virtuoser Jongleur der Irrungen und Wirrungen. Die Handlung in groben Zügen: Im Labyrinth Atlantes haben sich Angelica, Ruggiero und andere Liebende verfangen. Die kühne Bradamante sowie Orlando und seine Kumpane machen sich auf, die Unglücklichen zu befreien. Es entsteht ein Sog, in dem sich nach und nach fast 20 Personen im Netz des Magiers verfangen. Am Ende verpuffen die Zauberkräfte Atlantes, der Palast stürzt ein und die Liebenden finden zueinander.

Foto © Gilles Abegg

Dem Spiel zu folgen, ist angesichts der Figurenvielfalt nicht immer leicht, zumal Atlante auch in die Rolle anderer Figuren schlüpft. Regisseur Murgia vertieft die Konfusion noch durch ein Tanzpaar, dessen Rolle zunächst undurchsichtig bleibt. Letztlich sorgen die Tänzer am Ende für das Happy End.

Die Figuren zappeln unter dem Einfluss Atlantes wie Verdammte im Trichter von Dantes Inferno. Wobei die Menschen in modernen Alltagsszenarien auftreten. Dafür errichtete Vincent Lemaire die Umrisse eines doppelstöckigen Hotels mit etlichen Kammern, die sich als Gefängniszelle, als Wartesaal eines Flughafens oder als Krankenzimmer entpuppen. Eine optische Überreizung, die durch Videoprojektionen der Spielszenen noch verstärkt wird. Verständlicher wird die Handlung dadurch nicht unbedingt. Auch nicht, wenn man sich durch den italienisch gesungenen und französisch übertitelten Text durchkämpfen muss.

Leonardo Garciá Alarcón führt sein groß und farbig besetztes Orchester, die Cappella Mediterranea, und das Ensemble bis zum letzten Takt mit flammender Leidenschaft durch den langen Abend, wobei er die ausgedehnten Rezitative an Cembalo und Orgel fantasievoll begleitet. Was die Sänger zu einer ungemein ausdrucksstarken und vitalen Darstellung anfeuert. Allerdings bewegt sich Rossis Musik im Umfeld der rezitativisch ausgerichteten Monodie der frühesten Opernversuche, wodurch sich trotz des immensen persönlichen Einsatzes aller Beteiligten auf Dauer ein Hauch monotoner Patina anzusetzen scheint. Und bei allem Respekt: Rossi ist kein Monteverdi, geschweige denn ein Händel.

Von der singenden Heerschar seien hervorgehoben die Sopranistin Arianna Vendittelli als Angelica mit der Aura einer leidenden verlassenen Dido oder Ariadne. Deanna Breiwick als kämpferische Bradamante glüht vor Intensität, der Schweizer Tenor Fabio Trümpy verleiht der Rolle des Ruggiero lyrischen Glanz und Mark Milhofer gibt mit seinem Charaktertenor der schillernden Rolle des Atlante ein pointiertes Profil.

Der Beifall des Publikums will selbst kurz nach Mitternacht kein Ende nehmen. Verdienter Dank für eine äußerst ambitionierte Produktion und ein Zeichen der Dankbarkeit für das Erwachen kultureller Normalität.

Pedro Obiera