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Rhythmus der Schmetterlinge

EFECTO MARIPOSA
(Maura Morales)

Gesehen am
4. Mai 2021
(Premiere/Stream)

 

Tanz NRW 21, Theater im Pumpenhaus Münster

Von wegen, es sei nicht interessant, wenn in China ein Sack Reis umfiele. Wer will denn schon wissen, ob nicht genau deshalb in Karlsruhe eine Rose im April blüht? Blödsinn. Mag sein. Vielleicht aber auch nicht. 1972 stellte Edward N. Lorenz die entscheidende Frage. „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ Der Schmetterlingseffekt war geboren. Im Gegensatz zum Schneeballeffekt, bei dem die Folgen einer Handlung zwar auch immer weitere – berechenbare – Kreise um sich ziehen, sind die Konsequenzen einer Handlung beim Schmetterlingseffekt nicht vorhersehbar, sondern bestenfalls zu beschreiben.

Am siebten Tag kann das Festival Tanz NRW 21 einen weiteren Höhepunkt verzeichnen. Zum ersten Mal wird das Video von der neuesten Arbeit der Cooperativa Maura Morales gezeigt. Während einer Residenz in Schloss Bröllin in der Gemeinde Fahrenswalde, das ist ein Flecken im Landkreis Vorpommern-Greifswald im Osten Mecklenburg-Vorpommerns, entstand im vergangenen September das Stück Efecto Mariposa, also Schmetterlingseffekt. Eine großartige Themenwahl, ermöglicht sie doch, der Fantasie freien Lauf zu lassen, ja, womöglich sogar eine neue Welt entstehen zu lassen. Wenn man will, kann man darin eine Weiterentwicklung der Compagnie sehen, die sich mit ihren letzten Erfolgen ja eher konkreten Themen widmete. Mit Efecto Mariposa werden die Türen geöffnet. Die Gefahr dabei: In die Beliebigkeit abzugleiten.

Stattdessen stellt die Cooperativa Maura Morales ein neues Meisterwerk vor. Während sich andere Künstler – immer noch – damit abmühen, die Bühnenfläche abzufilmen, geht die Cooperativa einen mutigen Weg. Zwischen den üblichen Totalen werden hier Super-Zooms gezeigt, die den Tänzern höchste Disziplin abverlangen, weil sie Gesichter und Situationen aus allernächster Nähe zeigen. Und Michio Woirgardt beweist, dass er den Filmschnitt verstanden hat. Mit höchster Präzision fängt er die Bilder ein, lässt keine Ausreißer zu. Das ist bewundernswert, selbst dann, wenn man weiß, dass ein Komponist Taktgefühl besitzt.

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Maura Morales lässt die Tänzer langsam antreten. Unabhängig von der Musik entfaltet sich der Tanz ganz allmählich. Margaux Dorsaz steht als Urquell jeglicher Entwicklung im Mittelpunkt und auf den Haaren von Matthea Lára Pedersen, die sich lang, füllig und blond auf dem Boden ausbreiten. Morales lässt diese Haare quasi als Leitmotiv immer wieder in den Vordergrund treten. Das wäre nicht unbedingt notwendig gewesen, funktioniert aber. Kalin Morrow, Jay Park und Iacopo Loliva ergänzen die Runde, die sich auf der leeren Bühne versammelt, auf der lediglich ein paar Lichtfäden eine Dekoration bilden und Woirgardt mit seinem Musikpult hinten rechts Platz findet. Grace Morales Suso lässt die Bühne überwiegend sehr kamerafreundlich im hellen Licht, so dass die Feinheiten der ausgeklügelten Choreografie erkennbar bleiben. Bei den Kostümen belässt es Marion Strehlow bei schwarz-silbernen, langärmeligen Anzügen, die aber immerhin die Körper der Tänzer erkennen lassen. Die Sexualität früherer Stücke hat Morales stark zurückgenommen. Da, wo früher der Körper im Vordergrund stand, gibt es heute die Andeutung erotischer Annäherungen, die nicht zum Abschluss kommen. Das nimmt ein wenig vom Reiz früherer Choreografien, entspricht aber dem Trend. Das Vokabular der Bewegungssprache ist so vielschichtig wie umfassend, geht oft ins Akrobatische. Was auffällt ist, dass bei den Hebungen nicht mehr zwischen Mann und Frau unterschieden wird. Daraus ergeben sich auch durchaus reizvolle Momente. Und Morales gelingt es, die Spannung mit Tempowechseln und ständig neuen Konstellationen über eine gute Stunde zu halten.

Woirgardt, der zwischenzeitlich auch Ballettmusiken für andere Compagnien komponiert hat, zeigt sich selbstbewusst. Nach sphärischem Funkensprühen mischen sich Trommeln in einen immer stärker werdenden Rhythmus, Stimmen mischen sich ein. Zwischendurch findet sich eine gestrichene Gitarre und eine Drahtbürste mit ihren kratzenden Geräuschen in eine Komposition, die mehr und mehr an eine Sinfonie erinnert. Vor allem, wenn Orgelklänge so etwas wie eine apokalyptische Stimmung hervorrufen. Zusätzlich hat der Komponist Mikrofone auf dem Bühnenboden anbringen lassen. So bekommen die Tänzer Einfluss auf die Klangwelt, die Woirgardt grandios entwirft. Die Entwicklung geht hier im Vergleich zu früheren Stücken deutlich weiter. Das ist vielversprechend. Dass die Musik nicht endet, sondern in den Abspann hineinwirkt, wirkt absolut gelungen.

An diesem Abend stimmt alles in einer wunderbaren Mischung. Was wird der nächste Schritt der Compagnie sein? Die weitere Abstraktion oder die Rückkehr zu konkreteren Themen? Es ist eigentlich egal, wie Maura Morales heute Abend bewiesen hat. Sie kann die Menschen mit ihren Choreografien einfach begeistern. Und das sollte für das Festival wohl ausreichend Impuls sein, um bis zum 9. Mai weiter Höhepunkt an Höhepunkt der Tanzlandschaft Nordrhein-Westfalen zu zeigen. Auch Efecto Mariposa ist noch einige Male zu sehen.

Michael S. Zerban