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Poetisch-aggressive Bilder

DRANG
(Malou Airaudo)

Gesehen am
8. Mai 2021
(Premiere/Stream)

 

Tanz NRW 21, Theater im Pumpenhaus, Münster

Man darf Malou Airaudo getrost als Grande Dame des zeitgenössischen Tanzes bezeichnen. In Marseille geboren, begann sie ihre tänzerische Ausbildung an der Oper ihrer Heimatstadt und tanzte dort auch im Ensemble. Nach weiteren Stationen ging sie Anfang der 1970-er Jahre in die USA, wo sie in New York Pina Bausch traf. Die engagierte Airaudo nach Wuppertal, um sie dort in allen wichtigen Stücken und das Solo in Sacre du Printemps tanzen zu lassen. Seit 1984 ist Airaudo Leiterin des Instituts für zeitgenössischen Tanz an der Folkwang-Universität Essen.

2003 wurde die Kompagnie Renegade gegründet. Ihr Anspruch war, „spartenübergreifende Produktionen, die ästhetisch und inhaltlich immer wieder außergewöhnliche Perspektiven hervorbringen“ im Spannungsfeld urbaner und zeitgenössischer Stile entstehen zu lassen. Seit 2019 hat diese Aufgabe die heute 73-jährige Airaudo als Künstlerische Leitung übernommen. Und so entstand das Stück Drang, das jetzt beim Festival Tanz NRW 21 als Premiere in einer digitalen Aufführung vorgestellt wird. Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Tanzstil Krump. Krump ist ein englischer Begriff und steht für Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise, also für ein tänzerisch überhöhtes Gebet. 2002 entwickelten Ceasare L. Willis und Christopher Toler in Los Angeles einen Tanzstil, der sich bewusst vom reinen Unterhaltungswert anderer Tanzformen abgrenzen wollte.

Zu Unrecht wird dem Krump immer wieder Aggressivität unterstellt, weil die Tänzer versuchen, sich in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen und dabei auch vor extremen Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. Es geht eben nicht darum, die „große Show“ abzuliefern, sondern dem Tanz eine innere Bedeutung für die Tänzer abzugewinnen. Man könnte sagen: Je weiter die intensive Auseinandersetzung für die Tänzer geht, desto besser ist Krump. Wenn man so will, ist das eine extreme Auffassung von Kunst, denn sie sieht den Tänzer und nicht das Publikum im Vordergrund. Kunst wird um ihrer selbst betrieben, anstatt der Unterhaltung in jedweder Form dem Publikum zu dienen. Das ist eine extreme Auffassung, die dadurch relativiert wird, dass Krump versucht, das Publikum in den Tanz miteinzubeziehen. Wenn diese Tanzform zunächst auf der Straße, später auch in den Kirchen Los Angeles‘ praktiziert wurde, sollte das Publikum sich ebenfalls auf die Verinnerlichung in Form von Tanz einlassen.

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In diesem engeren Sinne versagt Airaudos Choreografie, weil es kein Publikum gibt, das sich beteiligen könnte. Unter den besonderen Bedingungen der Corona-Krise scheint das verzeihlich. Sie schickt sechs Tänzer auf eine taghelle Bühne, auf die übergroße Fenster Sonnenlicht fallen lassen. Das hat sich Moritz Bütow ausgedacht. Und es funktioniert. Die Kostüme von Mark Sieczkarek sind in Schwarz gehalten, Mäntel vervollständigen Jeans und zeigen sich im Gegensatz zum halbtransparenten T-Shirt einer der Tänzerinnen. Ergänzt wird das durch Projektionen, die sich über das gesamte Monitorbild entfalten. Dabei repräsentieren die vier Tänzer William Hayibor-Venous, Kwame Osei, Solomon Quaynoo und Rymon Zacharei am ehesten den originären Tanzstil, während Francesca Zaccaria und Eva Pageix für die nötigen Brechungen sorgen. Auf der Bühne mit ein paar Folien, von denen sich einige später als kunstvoll gewickelte Kleider entpuppen, einem Stuhl und einem Ast werden Scheinangriffe ausgefochten, martialische Auftritte gezeigt, die sich mit schier poetischen Bildern und Aboriginee-Auftritten abwechseln. Von einem „normalen“ zeitgenössischen Tanzabend unterscheidet sich die Bewegungssprache in einer Betonung der Arme und der Brust, einige roboterhafte Zuckungen und die immer wieder gesuchte Distanz, die man als feindselig auffassen könnte. Eindrucksvoller als die Scheingefechte wirken allerdings die Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen, die sich in teilweise eindrucksvollen Hebungen äußern. Airaudo lässt deutlich die „Trance“ sehen, die sich auf verschiedensten Wegen ihren Weg sucht.

Die Musik von Abel Korzeniowski, Max Richter, Moderat, Jóhann Jóhannsson, Jon Hopkins, Reptilicus & Senking wird direkt eingespielt und entfaltet auf dem Kopfhörer ihre besondere Wirkung. Da wird sowohl auf die Musik als auch gegen die Musik getanzt, immer aber passt die Musik zur Szene. Entstanden ist damit ein einstündiges Werk, das einen gelungenen Blick auf den Tanzstil Krump wirft, ohne auf die Poesie von Bildern zu verzichten.

Und damit geht das Festival Tanz NRW 21 allmählich zu Ende. Man behauptet nicht zu viel, wenn hier ein Überblick über die Szene des zeitgenössischen Tanzes geboten wurde. Und es darf behauptet werden: Die Tanzszene ist gut aufgestellt in Nordrhein-Westfalen.

Michael S. Zerban