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Walzer mit Huhn

BILDERZERSTÖRER
(Yoshiko Waki, Rolf Baumgart)

Gesehen am
1. Mai 2021
(Premiere/Stream)

Tanz NRW 21, Theater im Pumpenhaus, Münster

Am vierten Tag des Festivals Tanz NRW 21 fällt die Auswahl schwer. Teilnahme an einer Demonstration, es ist schließlich Tag der Arbeit, endlich die Wiederholung von Venedig, Venedig anschauen oder beim Festival wählen zwischen Cherchez la femme von der Cooperativa Maura Morales und Bilderzerstörer von Bodytalk. Zumindest im Hinblick auf das Festival ist die Entscheidung schnell getroffen, denn das großartige Stück von Maura Morales wird am kommenden Freitag noch einmal zu sehen sein – und sei an dieser Stelle schon ausdrücklich empfohlen.

In Krisenzeiten sind verunsicherte Bürger besonders anfällig für Angriffe von Ideologen, wie die Geschichte und die Gegenwart hinlänglich zeigen. Seit fast anderthalb Jahren baut die Regierung eine unglaubliche Droh- und Angstkulisse auf, bei der auf nichts verzichtet wird, was die PR-Trickkiste hergibt. Tägliche Bekanntgabe bedrohlicher Zahlen in den Medien, die durch nichts überprüfbar sind, ein Krisenstab mit täglicher Lagebesprechung von regierungsnahen Experten – andere bleiben vorsichtshalber ausgeschlossen – ein Politiker, der den Scharfmacher gibt und täglich den Weltuntergang prophezeit, Katastrophenbilder von den Intensivstationen und neuerdings gar ein Krankenpfleger, der neben den Gesundheitsminister gesetzt wird, um seine Sorgen zu beweinen: „Es könnte meine Mama sein, die da liegt.“ Menschen, die dieses Szenario hinterfragen, werden gleich in die rechte Ecke gestellt. Solche Verläufe und Instrumente denken sich normalerweise hochbezahlte Public-Relations-Agenturen aus, um staatliche Geschicke zu lenken. Und es ist keinem Bürger zu verdenken, wenn er sich verunsichert oder gar verängstigt fühlt.

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In solchen Situationen wittern zwei Gruppen Morgenluft. Das eine sind die Verschwörungserzähler, die sich darüber freuen, dass sie mit ihren absurden Ideen endlich Gehör finden. Glücklicherweise nur bei wenigen, und schon gar nicht bei Menschen, die die Situation kritisch beurteilen und hinterfragen. Die ärgern sich eher über solche Schwadronierer, weil sie die ohnehin komplizierte Faktenlage weiter verschleiern. Weitaus gefährlicher sind die Ideologen, die ihre Stunde gekommen sehen, ihre Ziele „unter dem Radar“ durchzusetzen. In diesen Tagen erleben wir, wie Moderatoren und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihren eigentlichen Auftrag vergessen und ungeniert die deutsche Sprache vergewaltigen. Wir erleben, wie Kulturschaffende versuchen, die deutsche Sprache ideologisch zu indoktrinieren, ebenfalls entgegen ihrem Auftrag. Das ist gefährlich, weil der Desinformation zugunsten scheinbarer Geschlechterfragen Tür und Tor geöffnet wird. Und sie haben leichtes Spiel, weil die Menschen gerade ganz andere Sorgen haben.

Da ist es gut, dass es Künstler wie Bodytalk gibt, die bildgewaltig und lautstark als Bildzerstörer antreten. Bilderzerstörer heißt das Tanztheater, das an diesem Abend bei Tanz NRW 21 zu sehen ist. Die Compagnie von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart hat zusammen mit dem Teatr Tańca Rozbark, einem Stadtteiltheater aus Bytom, dem ehemaligen Beuthen in Schlesien, ein Stück erarbeitet, das grellbunt, laut, hektisch, provokant, kurzum überbordend Fragen der Zeit aufwirft. Da greifen Waki und Baumgart durchaus auch mal zu drastischen Bildern, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Durch die soeben bemalte Leinwand werden hinterrücks Messer durchgestochen, die nicht nur das Kunstwerk zerstören, sondern auch den Künstler bedrohen. Der Gebrauch eines Diabetes-Messinstruments wird erklärt, um verständlich zu machen, wie verschieden Norweger und Niederländer mit dem Thema Angst bei den Bürgern umgehen. Da darf auch der nackte Tänzer mal einen Gummi-Penis auf dem Silbertablett in die Kehle nehmen, bis ihm der Speichel aus dem Mundwinkel läuft. Durchbrochen werden solche Szenen von Tanz-Attacken zu hämmernder Live-Musik, letzteres gehört zum Markenzeichen von Bodytalk. Schier ohne Atempause verausgaben sich die drei Tänzer und drei Tänzerinnen auf der Bühne, Kostümwechsel werden hinter Paravents am Bühnenrand vollzogen. Großartig und deshalb besonders erwähnenswert ist der Walzer mit den geschlachteten Hühnern, der Moralisten Grenzen aufzeigt, wenn sie mit dem Finger auf Menschen zeigen, für die Fleisch Bestandteil ihrer täglichen Ernährung ist. Zwischenzeitlich erinnert das Geschehen auf der Bühne eher an ein politisches Happening der 1970-er Jahre, ehe die Tänzer sich wieder in einen kraftvollen Bewegungsakt begeben.

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Die neue Idee des Kollektivs mit den flachen Hierarchien mag in den Arbeitsstrukturen der Compagnien für erfreulichen Aufwind sorgen. Und es ist gewiss erfreulich für das Publikum zu erfahren, dass alle ihren gleichen Anteil am Erfolg des Abends hatten. Wenn das aber dazu führt, dass in den Credits nur noch Namenslisten aller Beteiligten aufgeführt werden, wird dem einzelnen die Chance genommen, sich zu profilieren. Das ist karriereschädigend. Und so führt selbst bei dieser Compagnie die übertriebene politische Korrektheit nicht zu besseren Ergebnissen, sondern hindert den einzelnen Künstler, sich über seine Arbeit zu bewähren.

Dieser Abend ist vermutlich live noch einmal so stark. Darauf deuten auch die beiden Damen hin, die zu nah am Mikrofon saßen und mit Kichern und Gequatsche noch mal für eigenes Flair sorgen. Für die Verfilmung hat sich irgendjemand entschieden, auch der Kameraführung einen künstlerischen Aspekt zu verleihen. Und so wechseln die Kameraeinstellungen zwischen der Totalen und einer subjektiven Kamera, die nicht nur Nähe, sondern auch Unschärfen bei Offenblende zulässt. Das trübt schon manches Mal das Sehvergnügen, auch wenn es künstlerisch wertvoll ist.

Ein ausgesprochen wertvoller Abend, der sich in seiner politischen Aussage wohltuend aus dem Alltagseinerlei konformer Meinungen abhebt und eigentlich derzeit vieltausendfach auf den Bühnen einer demokratischen Republik stattfinden müsste.

Michael S. Zerban