O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Poesie der Liebe

TURANDOT
(Giacomo Puccini)

Besuch am
28. Januar 2020
(Premiere am 3. Dezember 2011)

 

Bayerische Staatsoper München

Wann hat es Schlittschuhläufer, Eishockeyspieler, Breakdancer, Balletttänzer und Luftseilakrobaten schon einmal gemeinsam auf einer Opernbühne gegeben? Carlus Padrissa mit La Fura dels Baus versammeln für Turandot an der Bayerischen Staatsoper München eine solche bunte Vielfalt von Bewegungskünstlern.

Die unverwechselbare Handschrift dieser Theatermagier vervollständigen zudem Fantasie assoziierende, visuelle 3-D-Effekte. Mit einem Füllhorn an Farben und Formen entlädt sich zwischen Schnürboden, Seiten- und Hinterbühne ein synästhetisches Rauschen. Giacomo Puccinis Oper kreist fortan wie ein Energie sprühender Komet von Feuer und Eis über die Bühne. Ausgerüstet mit einer dem Programmbuch beigelegten 3-D-Brille, aufgesetzt an den auf der Projektion der deutschen Übersetzung kenntlich gemachten Stellen, imaginieren sie allegorisch bunt schillernde Fantasieräume.

Das seit tausenden von Jahren in Eiseskälte erstarrte chinesische Reich findet in Roland Olbeters Bühnenarchitektur mit der Eisfläche für das niedere Volk und dem kaiserlichen Eispalast eine metaphorische Entsprechung. Breakdancer und Eisläufer schaffen eine pulsierende Atmosphäre, die das Bayerische Staatsorchester sowie Chor, Extrachor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Leitung Giacomo Sagripanti mit chinois gestimmter Italianità auf Hochtemperatur bringt.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Fulminant bringt Sagripanti das umfangreiche Arsenal an Schlagwerken mit Pauke, Glockenspiel, Bassxylofon sowie Celesta, Bassposaune und Altsaxofone gemeinsam mit Blechbläsern und Bass schon mit den ersten Takten rauschhaft in Stellung. Umstandslos meint man Zeuge zu sein, wie Puccini mit Turandot einen Weg von der klassischen Opernmusik zur Filmmusik einschlägt. Da er durch Krankheit und Tod die Komposition nicht beenden konnte, sie ein Fragment bleiben musste, lässt sich nicht sagen, wie weit er diesen Weg mit welchen musikalischen Ideen weiterhin verfolgt hätte.

Allein das fragmentarische Material lädt zu einer kreativen Interpretation, die mit der Schluss-Sequenz „Liù! Poesia!“ nichts abschließt, sondern eine Herausforderung ist, die narrative Perspektive über diese Leerstelle hinaus assoziativ und meditativ zu verlängern. Geradezu eine Steilvorlage für La Fura dels Baus. Ihre Inszenierung brennt ein Feuerwerk ab, das sich im großen Kristalllüster im Königssaal des Opernhauses funkelnd zu transformieren scheint.

Für solche Betrachtungen lädt die Aufführung geradezu ein. Der technische Aufwand der Inszenierung verlangt zwei jeweils halbstündige Pausen. Dadurch, dass die einzelnen Akte das gleiche Zeitmaß haben, verschränken sich unter diesem Aspekt Pausen-Wirklichkeit und die Turandot-Erzählung nach dem Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni nach Carlo Gozzi.

Die Geschichte des sich seit endlosen, für das Volk quälenden Zeiten vollziehenden Rituals, dass die Bewerber um die Hand der Prinzessin Turandot infolge dreier nicht gelöster Fragen geköpft werden, liegt bleiern über dem Volk. Aktionistisch bildreich wird die bisherige Geschichte erzählt. Eishockeyspieler schieben sich abgeschlagene Köpfe wie einen Puck zu. Andere schweben von Akrobaten in Schwimmerposen, mit chinesischen Feuer-Eis-Wasser-Schriftzeichen transponiert, video-sequenziert über der Bühne.

Wer die Gelegenheit hatte, im Lenbach-Haus München die Ausstellung Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin zu sehen, wird nicht nur direkt über Jawlenskys Gemälde Turandot I von 1912 und seinen malerischen Kopf-Meditationen zu Puccinis Oper hingeführt. Die Inszenierung von La Fura dels Baus kommentiert diesen Kontext geradezu kongenial.

Foto © Wilfried Hösl

In der Rolle der Minister Ping, Pang und Pong setzen Boris Prýgl, Manuel Günther und Andres Agudelo markante sängerische Strukturen und spielintelligente Zäsuren, die mit der imposant kolorierenden, unprätentiös präsenten Sopranistin Selene Zanetti als Liù sowie mit Alexander Tsymbalyuk, der mit sattem Bass Timur, Re tartaro spodestato charaktervoll zeichnet, umstandslos fortgesetzt werden. Im Kontext dieser Gestaltung irritiert, wie matt der Tenor Yusif Eyvazov als Calaf, dem mutigen Herausforderer des Glücks zusammen mit Zanetti und Tsymbalyuk, klingt.

Mit der Arie Nessun dorma! hat Eyvazov seinen, von stürmischem Szenenapplaus begleiteten Auftritt im dritten Akt. Glaubte man, dass er damit seine bis dahin vermisste stimmliche Ausdruckskraft gefunden habe, verliert sie sich merkwürdigerweise wieder in den folgenden Szenen mit den Ministern und dem mit brillanter Stimmkultur artikulierenden, von Stellario Fagone differenziert abgemischten Opernchor. Obwohl mehrheitlich mit dem genannten bravi-Applaus gefeiert, fehlt ihm bei genauem Hinhören eine gewisse Leichtigkeit in der Tongebung.

Einschwebend in einer 3-D-animierten Glaskugel, erreicht die Aufführung mit der Turandot-Arie In questa Reggia ihren von vielen sehnlichst erwarteten Höhepunkt. Anna Netrebko gelingt etwas Seltenes. Es scheint, als sprenge jede einzelne Note Eiskristalle ab, die sich, kurzzeitig erwärmt, im gleichen Moment wieder zu Eis materialisieren. Tonfolgen klangrein gefügt, schaffen den Eindruck, als ob sie in ihrem Kopf nachhallten. Ihren Gesang umgibt eine Aura von staunendem Luftanhalten. Eine Meditation der Superlative über Eis, Feuer und Wasser.

In der finalen Apotheose zieht La Fura dels Baus alle Register ihres bildgebenden Könnens – keine Demonstration technischer Spielkunst, vielmehr gleichwohl die Spiellust, facettenreich zu reflektieren. Turandots Befehl, von den Herolden verkündet – Questa notte nessun dorma in Pekino – übersetzen sie in glitzernde Leuchtreklame-Signets vor in offenen, schattenhaft verdunkelten Boxen kauernden Menschen.

Als Liù, zur Bambusfolter verurteilt, mit Zanetti die Kraft der verschlossenen Liebe als Poesie mit seidig klangschönem Sopran Tanto amore segreto besingt, schwebt Puccinis Poesia-Fragment, meditativ aufgeladen, in der Staatsoper. Die Weisheiten der alten Tao-Philosophie drängen sich auf. Nicht nur Turandot ahnt in diesem Moment etwas von der magischen Kraft der Liebe. Im jubelnden Applaus, selbstredend besonders für Netrebko, schwingt ahnungsvoll etwas davon in Teilen des begeisterten Publikums mit.

Peter E. Rytz