O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Kein Liebestod

TRISTAN UND ISOLDE
(Richard Wagner)

Besuch am
6. Juni 2022
(Premiere am 29. Juni 2021)

 

Bayerische Staatsoper München

Kurz vor den jährlichen Münchner Opernfestspielen, dem Höhepunkt im Aufführungskalender, steht die Wiederaufnahme von Richard Wagners Tristan und Isolde für insgesamt vier Vorstellungen auf dem Programm. Bei der Premiere vor einem Jahr waren vor allem Jonas Kaufmann und Anja Harteros für ihre Rollendebüts gefeiert worden, und das Dirigat von Kirill Petrenko war eine Sternstunde. Bis auf die beiden Titelrollen ist es fast dieselbe Besetzung wie bei der Premiere. Diesmal stehen Stuart Skelton und Nina Stemme auf der Bühne, und im Orchestergraben gibt Lothar Koenigs den Takt vor. Die Regie der Inszenierung ist von Krzysztof Warlikowski, der für seine surrealen und bildhaften Inszenierungen bekannt ist, die nicht immer eingängig und auf Anhieb verständlich sind. Seinem Schema bleibt er auch in dieser Produktion treu. Das Einheitsbühnenbild sowie die Kostüme werden von Małgorzata Szczęśniak gestaltet, der langjährigen Partnerin Warlikowskis. Die Videos zur Inszenierung erstellte Kamil Polak, ins rechte Licht wurde die Szenerie von Felice Ross gesetzt.

Beim Vorspiel sieht man auf der Bühne einen Jungen und ein Mädchen in moderner Kleidung stehen. Ihre Gesichter sind durch eine hautfarbene Maske ohne Haare zu einem Puppengesicht stilisiert, ausdruckslos und starr. Er nimmt sie zärtlich in die Arme, sie wankt, er trägt sie dann hinaus. Man darf vermuten, dass es sich um eine Projektion von Tristan und Isolde handelt. Es wird aber bis zum dritten Aufzug dauern, bis Regisseur Warlikowski das Rätsel lösen wird.

Die Bühne bildet eine Art Salon oder Foyer eines Hotels, mit schweren Holzwänden im Art-déco-Stil. Schwere englische Möbel, Sessel und Sofa im Chesterfeld-Stil und eine Art Futon mit einer bunten Decke füllen den Raum. Eine große Videoleinwand, in einer Holzwand integriert, wird vom Schnürboden herabgelassen, man sieht zwei überdimensionierte Möwen, die übers Meer fliegen, als Metapher für das Schiff, das Isolde auf dem Weg von Irland nach England zu König Marke bringen soll. Dann zeigt das Video einen endlosen Gang mit vielen Zimmertüren, und es ist klar, die Szenerie spielt in einem Hotel oder altem, englischem Landgut. Von den Kostümen und von der Einrichtung her könnten es die frühen zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts sein, vielleicht zum Ende des Ersten Weltkriegs. Denn zu Beginn des ersten Aufzuges sieht man Kriegsversehrte in Unterhosen und Beinprothesen, und auch der junge Seemann, der mit seinem Lied die Oper eröffnet, ist verletzt und traumatisiert. Er trägt einen Augenverband, scheint der Realität entrückt. Es ist Brangäne, die sich eine Rot-Kreuz-Schürze umbindet und den jungen Seemann versorgt. Eine surreale Situation, in der Tristan, bekleidet als Schiffsoffizier, die Szene betritt. Kurwenal, sein treuer Begleiter, ist ganz in Schwarz gekleidet, sein Kragen verrät, dass er ein Priester ist. Lediglich Isolde ist elegant gekleidet und fordert Tristan auf, ihr endlich zu antworten. Sie fordert Sühne für den Mord an ihrem Verlobten Morold, und gleichzeitig will sie mit Tristan sterben, da ihre Liebe keine Zukunft hat und sie nicht mit König Marke zusammenleben kann. Diesen psychologischen Konflikt und die unterschiedlichen Beziehungsebenen versucht Warlikowski auch mit Hilfe der Videoprojektionen zu beleuchten, was ihm aber nur ansatzweise gelingt, denn die tiefe Bedeutung des Beziehungsdramas liegt in der Musik und benötigt keine pseudointellektuelle Interpretation. Wenn nach der Einnahme des vermeintlichen Todestranks auf der Videoleinwand eine blau-grüne Wiese plötzlich farblich explodiert bis hin zu lodernden Flammen, dann ist das optisch wunderbar dargestellt, wie eine Halluzination nach einem Drogentrip, doch in Wahrheit ist das eine Synästhesie der Musik und des Gesangs.

Foto © Wilfried Hösl

Zu Beginn des zweiten Aufzugs sieht man Marke und seine Jagdgesellschaft, alles Herren aus dem britischen Establishment, entsprechend traditionell und konservativ gekleidet. Schön ist die Bühnenmusik mit den Hörnern anzuschauen und anzuhören, und auch der Puppen-Tristan vom Vorspiel ist plötzlich unter dieser Gesellschaft, und ein Greis erscheint als König Markes Diener. Isolde, auf den Geliebten wartend, löscht immer wieder das Licht in dem Raum, das Zeichen für den wartenden Tristan, während Brangäne es wieder einschaltet. Dann bleiben Tristan und Isolde allein zurück, ohne körperliche Berührung zu Beginn des endlos langen Liebesduetts. Dafür sitzen beide in den schweren Chesterfield-Sesseln, mit einer gehörigen Portion Abstand, während das eigentliche Drama sich auf der Videoleinwand abspielt, in schwarz-weiß, wie in einem Stummfilm vor 100 Jahren. Zunächst sieht man ein mondänes Treppenhaus, in dem Isolde langsam die Treppen hochsteigt, mit einer großen Sonnenbrille getarnt, um sich dann in ein geräumiges Hotelzimmer auf das Bett zu setzen und auf Tristan zu warten. Während des großen Duettes O sink hernieder Nacht der Liebe ist Tristan tief in den Sessel eingesunken, und beide singen fast wie unbeteiligt das wunderbare Duett, während auf der Videoleinwand nun auch Tristan das Zimmer betreten hat und Isolde auf dem Bett liegend sieht. Kein jubelnder Empfang, keine Liebesszene, beide setzen sich lediglich aufs Bett und halten sich zögernd die Hände, während Brangäne unsichtbar im Hintergrund ihren einsamen Wachtruf singt. Es ist wie ein philosophischer Diskurs über die Liebe und ihre Ausweglosigkeit, während die Musik strömt und fließt. Das Video zeigt lediglich eine Doppelung der Szenerie, bringt aber für das Verständnis des Werkes keine neuen Erkenntnisse.

Hier scheint der Regisseur, wie so viele, dem Irrglauben erlegen zu sein, dem Zuschauer das Werk so besser nahebringen zu können, und unterschätzt dabei die Tatsache, dass vor allem im Tristan das Verständnis durch die Emotionalität der Musik und des gesungenen Wortes entsteht. Zum Ende des Liebesduetts krempeln sich Tristan und Isolde die Arme auf, um sich die Pulsadern aufzuschneiden und gemeinsam zu sterben, was ihnen im ersten Aufzug durch Brangänes Eingreifen und Vertauschen des Trankes nicht vergönnt gewesen ist. Der gescheiterte Doppel-Suizid ist für Warlikowski das alles bestimmende Merkmal seiner Inszenierung. Doch das Eintreffen von Marke und seiner Gesellschaft verhindert den zweiten Versuch erneut, und am Schluss des Aufzuges stürzt sich Tristan in das Schwert des als Marineoffiziers gekleideten Melots, zuvor hat er Isolde zärtlich in die Arme genommen und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt.

Im dritten Aufzug ändert sich das Setting, man sieht einen großen Tisch, an dem neun Puppen, geschlechts- und ausdruckslos und ohne Haare, in derselben uniformen Kleidung am Tisch sitzen, in der Mitte Tristan. Auf dem Futon liegt dagegen der Puppen-Tristan, der schon im Vorspiel zu sehen war. Jetzt erklärt sich auch die Szenerie, denn Tristan erinnert sich im Fieberwahn an seine elternlose Kindheit. Der Vater starb vor, die Mutter während seiner Geburt. Da teilt er das Schicksal mit Siegfried und teilweise auch mit Parsifal, eine in den Werken Wagners psychologisch wichtige Konstellation. Da Warlikowski seine Geschichte in das frühe 20. Jahrhundert verlegt hat, ist dieses Setting das Waisenhaus, in dem Tristan groß geworden ist. Dass das eine reine Deutung des Regisseurs ist und mit der wirklichen Handlung nun gar nichts zu tun hat, braucht nicht weiter betont werden. Während der verwundete Tristan nun im Kreise der Kinderpuppen seinen Fieberwahn auslebt, umsorgt Kurwenal am Futon den sichtlich nach Atem ringenden Puppen-Tristan. Zweimal wechseln im Laufe des dritten Aufzuges Tristan und sein Avatar die Plätze. Als Kurwenal schon resignierend feststellen muss …“noch ist kein Schiff zu sehen“, naht aus dem Hintergrund die ebenfalls vom Vorspiel bekannte Puppen-Isolde. Die markanten „Sehnen! Sehnen!“-Rufe Tristans stößt er stehend aus, während sein Avatar auf dem Futon im Sterben liegt. Hier scheint der Regisseur die ganzen Gefühle und Empfindungen, die der sterbende Tristan in Form des Avatars hat, durch die echte Figur des Tristan symbolisieren zu wollen. Die Doppelung mag durchaus nachvollziehbar sein, ist aber letztendlich genauso überflüssig wie die Videoübertragung aus dem Hotelzimmer. Im Fieberwahn und in Erwartung des nahenden Schiffes sinkt die Puppen-Isolde dem Puppen-Tristan in die Arme, während der echte Tristan sterbend zu Boden sinkt. Als Isolde naht, senkt sich wieder die Holzwand mit der eingebauten Leinwand, und Isolde ist mit dem sterbenden Tristan allein.

Nach Tristans Tod nimmt Isolde Gift, um wenigstens im Tod mit dem Geliebten vereint zu sein. Noch einmal öffnet sich der Zwischenvorhang, die Kinderpuppen sind weg, an dem weiß eingedeckten Tisch sitzen nun Marke, Melot, der Steuermann und Kurwenal, während Brangäne in Trauerkleidung im Hintergrund steht. Marke singt seinen Schlussmonolog, während die anderen Protagonisten um ihn herum dem nur musikalisch angedeuteten Kampf nach und nach zum Opfer fallen und tot zu Boden sinken. Isolde, die am Boden liegt, erhebt sich noch einmal für ihren Schlussgesang, um dann tot neben Tristans Leiche zu Boden zu sinken. Die Videoprojektion zeigt zum Schluss noch einmal, diesmal in Farbe, die beiden im Hotelzimmer ausgestreckt auf dem Bett liegend, sich an den Händeln haltend, um zu den Schlusstakten der Musik mit einem Lächeln zu versterben, der Suizid als seelische Erlösung. Es ist zumindest kein Schlussbild, das an der Inszenierung vorbeigeht. Warlikowski, das sagt er selbst, hat hier auch seine eigenen Ängste verarbeitet und neben dem Suizid auch dem Thema Einsamkeit großen Raum gegeben.

Mit Spannung durfte allerdings darauf gewartet werden, wie sich dieser Abend musikalisch und sängerisch entwickeln würde. Lothar Koenigs am Pult des Bayerischen Staatsorchesters spielt einen dynamischen und wuchtigen Tristan, manchmal fast an der oberen Grenze der Lautstärke, aber immer mit dem Gefühl für den Moment.  Berückend sind die symphonischen Elemente wie das Vorspiel zum ersten Aufzug, das filigran und voller Emotion aus dem Graben ertönt, sowie der Beginn des dritten Aufzuges mit dem Englischhorn-Solo. Marlene Gomes spielt das Solo auf offener Bühne und bekommt zum Schluss dafür zurecht großen Applaus. Der berühmte dissonante Tristan-Akkord weckt die Hoffnung auf eine verströmende Tonsprache, die so charakteristisch für das Werk ist. Es entstehen große Bilder, rauschhafte Klänge der Unendlichkeit, die die überwältigenden Gefühle der kaum noch aktiv handelnden Figuren deutlich machen. Es ist insgesamt wieder eine überzeugende Leistung des Staatsorchesters und von Lothar Koenigs, der zu Beginn des zweiten und dritten Aufzugs vom Publikum schon gefeiert wird.

Foto © Wilfried Hösl

Stuart Skelton scheint im Moment im Wagner-Dauereinsatz zu sein. Siegmund, Parsifal, Tristan, dazwischen noch den Peter Grimes. Sein strahlkräftiger Tenor mit baritonalem Timbre meistert die Höhen dieser Partien normalerweise ohne Probleme. Doch an diesem Abend sind es deutliche Ermüdungszeichen zum Schluss des dritten Aufzuges, in denen seine Stimme brüchiger wird und ihm zweimal der Ton wegbricht. Vielleicht auch Ausdruck eines kräftezehrenden Ansingens gegen das manchmal übermächtige fortissimo im Orchestergraben. Dennoch eine insgesamt überzeugende Darbietung. Man kann dem sympathischen Sänger nur wünschen, dass er sich bis zur nächsten Aufführung stimmlich wieder erholt. Keinerlei Probleme an diesem Abend hat Nina Stemme. Ganz im Gegenteil, diese Personifikation einer Wagner-Heroine verfügt über einen Stimmumfang, der schier atemberaubend ist. Mit einer warmen, tiefen Mittellage, die einem Mezzosopran alle Ehre machte, bis zu den hochdramatischen Ausbrüchen, die schneidender Stahl sind, übertönt sie noch das lauteste fortissimo des Orchesters. Ohne jede Ermüdungserscheinung meistert sie ihre Partie, um am Schluss sängerisch einen tief berührenden „Liebestod“ zu sterben, der ja in der Inszenierung keiner ist. Ihr „Liebestod“ ist eine elegische Darbietung des Strömens und Versinkens, fast schon sphärisch gesungen, das ist Gänsehaut pur! Normalerweise spricht man ja nicht über das Alter von Sängerinnen. Doch um diese Leistung noch besser einordnen zu können, muss man wissen, dass Nina Stemme erst vor wenigen Wochen ihren 59. Geburtstag feierte. Wie Waltraud Meier eine Dekade zuvor hat Nina Stemme die Rolle der Isolde geprägt wie kaum eine andere Sängerin in den letzten zwanzig Jahren. Ihr Auftritt ist wieder einmal eine Sternstunde, und am Schluss wird sie vom Publikum zu Recht frenetisch umjubelt.

Die Mezzosopranistin Okka von der Damerau in der Rolle der Brangäne ist in dieser Konstellation eine Idealbesetzung. Mit ihrer warmen Mittellage und strahlenden Höhen ergänzt sich Ihre Stimme mit Nina Stemmes hochdramatischen Sopran auf ideale Weise, da auch von der Damerau hochdramatisch sein kann und damit auf derselben Linie liegt wie Stemme. Ihr Wachtruf im zweiten Aufzug ist dagegen sehr lyrisch gesungen und voller Anteilnahme und Mitgefühl geprägt. Wolfgang Koch als Kurwenal meistert die Partie mit kraftvollem Bass-Bariton. Mika Kares beeindruckt mit seinem markanten und ausdrucksstarken Bass als König Marke. Sein Rolleninterpretation ist voller Trauer und Verzweiflung, sowohl über den Verrat Tristans, aber auch über den Verlust der beiden Menschen, die ihm am meisten bedeuten. Die Rolle des Melot ist mit Sean Michael Plumb gut besetzt, und Jonas Hacker als Hirte fügt sich gut in das Sängerensemble ein. Caspar Singh singt das Klagelied des jungen Seemanns mit ausdrucksstarkem Tenor und großer Textverständlichkeit, während Christian Rieger den Steuermann mit wohlklingendem Bariton intoniert. Der Chor der Bayerischen Staatsoper ist von Stellario Fagone hervorragend eingestimmt und stimmlich voll präsent.

Am Schluss gibt es für alle Protagonisten im nicht ganz ausverkauften Nationaltheater großen Applaus, aber ganz besonders Lothar Koenigs, Stuart Skelton, Nina Stemme und Okka von der Damerau werden enthusiastisch gefeiert.

Andreas H. Hölscher