O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Liebe und Tod

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
28. Juni 2022
(Premiere am 25. Juli 1993)

 

Bayerische Staatsoper München

Die Münchner Opernfestspiele wurden in diesem Jahr mit einem Stück eröffnet, das nicht jedermanns Sache ist. Krzysztof Pendereckis Die Teufel von Loudun ist ein Stück über Teufelsaustreibungen, Machtmissbrauch, gesellschaftliche und politische Repression, Folter und politisch sanktionierten Mord. Den musikalischen und inhaltlichen Kontrast dazu bietet die zweite Vorstellung der Festspiele mit Verdis La Traviata in der mittlerweile fast dreißig Jahre alten Inszenierung von Günter Krämer. Diese Inszenierung in München ist ein Klassiker, und grade zu den Opernfestspielen sind es große Namen oder Namen, die grade groß werden, die sich in der Landeshauptstadt präsentieren. Diana Damrau und Anja Harteros, beide große Wagner-Interpretinnen, haben vor vielen Jahren als Violetta reüssiert. Placido Domingo gab hier schon den Giorgio Germont, und so darf man auf das diesjährige Sängerensemble gespannt sein. Der große Leo Nucci, mittlerweile 80 Jahre alt, war als Giorgio Germont angekündigt, ein Zugpferd und Theatertier alten Schlags. Das wäre nochmal ein Erlebnis gewesen, diesen Altmeister auf der Bühne zu erleben, doch er muss krankheitsbedingt absagen, für ihn übernimmt Simon Keenlyside die Rolle, die er schon vor über zehn Jahren bei den Münchner Opernfestspielen verkörperte. Und auch Stephen Costello musste kurzfristig absagen, für ihn übernimmt der ukrainische Tenor Dmytro Popov die Partie des Alfredo. Doch die ganzen Umbesetzungen mindern den musikalischen Gesamteindruck überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, es wird musikalisch und sängerisch ein überwältigender Abend werden.

La Traviata ist wohl eine der meistgespielten Opern weltweit. Ursprünglich wollte Verdi seiner dritten Oper der Erfolgstrilogie „trilogia popolare“ nach Rigoletto und Il Trovatore den Titel Amore e morte geben. Liebe und Tod – der unzertrennliche Stoff in der Opernliteratur schlechthin. Im Mittelpunkt, quasi als Symbol für die Morbidität und Fragilität gesellschaftlicher Normen und Beziehungen steht im ersten Bild eine schwarze Wand mit Türen. Schon zur Ouvertüre sieht man Männer im schwarzen Frack, aufgestellt wie bei einem Trauerzug. Ein junges Mädchen in hellem Kleid erscheint, während Violetta in strahlend weißem Kleid die Bühne betritt und dem Kind gegenübertritt. Es ist die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, und der erste Hinweis auf das nahende Ende. Schwarz und Weiß, das sind die dominierenden Farben der Inszenierung, wie auch die gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit nur Schwarz oder Weiß kannten. Nach dem filigran musizierten Vorspiel nimmt die Musik Fahrt auf, die schwarzen Türen öffnen sich, und dahinter ist eine leuchtend rote Wand zu sehen, ebenfalls mit vielen Türen, hinter denen sich das frivole und dekadente gesellschaftliche Leben abspielt, ein Voyeurismus zwischen moralischer Heuchelei und Selbstsucht.

Foto © Wilfried Hösl

Violetta ist die Kurtisane, die ihr kurzes Leben im Rausch genießt, die sich aber auf der Suche nach Liebe und Anerkennung verzehrt, obwohl sie längst den Glauben daran verloren hat und letztendlich deshalb zu Grunde gehen muss. So ist die ganze Inszenierung eine ständige Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Sterben. Die Atmosphäre ist morbide, dunkel, Violettas Treiben ist ein Tanz auf dem Vulkan, der den Tod als unausweichliches Ende wie die Musik selbst bereits in der Ouvertüre vorwegnimmt. Der Niedergang der Gesellschaft als heuchlerische Doppelmoral bestimmt die Personenregie. Alfredo scheint Violetta wirklich zu lieben, doch seine Prägung durch den gefühlskalten und auf Konventionen bedachten Vater Giorgio Germont führt zur Katastrophe. Violetta verzichtet auf ihr Glück und kehrt für eine kurze Zeit in ihr altes Leben zurück. Alfredos reuige Einsicht und Giorgios zu spät erwachte Vatergefühle für Violetta können den tragischen Schluss nicht mehr wenden. Und so wird der Abend zu einem intimen und morbiden Kammerspiel der drei Protagonisten. Auch wenn im ersten Bild das unfassbare Glück für Violetta noch greifbar scheint, weist ihre angeschlagene Gesundheit doch schon früh auf das unabwendbare Ende.

Das zweite Bild spielt in einer Art Garten. Herbstlaub liegt auf dem Boden, ein paar Holzstühle liegen verstreut, eine alte Wippe und eine Schaukel erinnern an glückliche Kindertage. Es ist Herbststimmung, die Vergänglichkeit ist spürbar, das unausweichliche Ende naht, noch will es keiner wahrhaben. Am linken Bühnenrand, halb verdeckt, ein riesiger Kronleuchter, fast am Boden, als Reminiszenz an die vergangene Zeit der rauschenden Bälle und Feste. Giorgio Germont erscheint zunächst als gefühlskalter Patriarch, der auf Konventionen bedacht ist und Violetta auffordert, um der Familienehre willen auf Alfredo zu verzichten. Das Liebesopfer ist aber auch gleichzeitig der Anfang vom Ende, für Violetta gibt es keine Hoffnung mehr. Dass im Hintergrund Alfredos Schwester als stumme Rolle den Konflikt zwischen ihrem Vater und Violetta und später zwischen ihm und Alfredo beobachtet, ist wie ein mahnender Zeigefinger von Regisseur Krämer in die Handlung integriert. Das Bühnenbild stammt von Altmeister Andreas Reinhardt, die eleganten Kostüme von Carlo Diappi. Das dritte Bild spielt wieder vor der schwarzen Wand, einzige Kulisse ist der große Kronleuchter, der wie ein Damoklesschwert über der Gesellschaft hängt. Zwar vermögen die Chöre mit ihren beiden Liedern noch etwas für aufheiternde Stimmung zu sorgen, aber das Drama zwischen Alfredo und Violetta nimmt seinen Lauf. Jetzt trägt auch Violetta ein schwarzes Kleid, und Alfredo, der natürlich nicht die Hintergründe des Liebesverzichts von Violetta kennt, schmeißt ihr sein im Spiel gewonnenes Geld vor die Füße, er hat für ihre Dienste bezahlt.

Giorgio Germont maßregelt zwar seinen Sohn, doch das kurze und fragile Glück des ehemaligen Paares ist unrettbar zerstört. Das Schlussbild spielt wieder vor der schwarzen Wand, der Kronleuchter liegt zerschmettert am Boden. Schwarzgekleidete Figuren stehen wie Todesboten um Violettas Bett und treten dann langsam in den Hintergrund. Der Arzt kann ihr auch mit seiner frommen Lüge von der nahenden Gesundung nicht helfen. Als Alfredo zurückkehrt, erlebt Violetta einen letzten und kurzen Augenblick des Glücks, auch als Giorgio Germont kommt, um sie als Tochter zu umarmen. Als Violetta stirbt, verlässt sie die Bühne zur Rückwand in ein Licht. Ein durchaus bewegendes Schlussbild der ansonsten eher kühlen und morbiden Inszenierung.

Foto © Wilfried Hösl

Es ist vor allem ein Abend großer Sängerstimmen. Die Sopranistin Lisette Oropesa zeigt mit großer Emphase die ganze Zerrissenheit von Violettas Persönlichkeit auf. Immer schwankend zwischen Liebe und Lust, Glück und Leid, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen hochmütigem Stolz und tiefer Demütigung und Erniedrigung. Schwelgt sie im ersten Duett mit Alfredo, dem Brindisi Libiamo, ne‘ lieti calici noch in freudiger Erwartung, so wird die große Arie am Schluss des ersten Bildes Follie! – Sempre libera zu einem dramatischen Ausbruch, die Koloraturen sind Hilferufe einer verzweifelten Seele. Das ist nicht unbedingt Belcanto, also schöner Gesang im wörtlichen Sinne, dafür aber nachhaltig und erschütternd. Violettas letzte Arie Addio del passato ist ein Gebet, ein Abschied vom Leben. Oropesa singt es mit großer Hingabe und berührender Innigkeit und zeigt die vielen Farben und Facetten dieser Partie. Dmytro Popov in der Rolle des Alfredo beeindruckt mit Belcanto-Schmelz, baritonalem Timbre und strahlenden Höhen sowie einem sehr emotionalen Spiel. Simon Keenlyside in der Rolle des Giorgio Germont überzeugt durch sein gefühlskaltes Spiel, sein markanter Bariton, der im Laufe der Vorstellung immer weicher und sonorer wird, sowie seine ausdrucksstarke Stimmführung verraten aber seine wirklichen Gefühle, die in der großen Arie Di Provenza il mar im zweiten Bild mit großer Intensität zum Ausdruck kommen. Die Mezzosopranistin Daria Proszek als Flora und Emily Sierra als Annina fügen sich genau wie die anderen Protagonisten harmonisch in ein überragendes Sängerensemble ein, in dem Martin Snell als Doktor Grenvil mit seinem balsamischen Bass eine Extraerwähnung verdient.

Der Bayerische Staatsopernchor ist von Stellario Fagone stimmlich bestens einstudiert. Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht die junge Dirigentin Giedrė Šlekytė mit einer engagierten und leidenschaftlichen Vorstellung. Ihr Schlag ist präzise wie bei einem preußischen Kapellmeister, ihre Bögen sind weich und fließend. Die kammermusikalische Zurücknahme des Orchesters bis hin zum intimen Piano und die Charakterisierung in pastellfarbenen Klängen vor allem bei den Streichern erzeugen große Emotionen. Die Tempi sind nicht zu schnell, und Šlekytė hat Mut für die typischen Verdi-Bögen; Phrasierungen lässt sie das Orchester und die Sänger ausmusizieren und bildet so das Fundament für einen großen musikalischen Abend.

Als der finale Vorhang fällt, wünschte man sich etwas mehr Sensibilität vom Publikum, um den großartigen Schlussmoment aufzunehmen und für ein paar Sekunden Stille die letzte Emotion zu spüren. Dass es immer noch Ignoranten gibt, die meinen, ihr Handy während der Vorstellung nicht auf stumm schalten zu müssen, ist dann besonders ärgerlich, wenn die im schönsten Piano gesungene Sterbeszene der Violetta durch lautstarkes Telefonklingeln zerstört wird. Der lautstarke Applaus des Publikums am Schluss steigert sich dann aber zu einem Jubelsturm für die drei Hauptprotagonisten, im Mittelpunkt die großartige Lisette Oropesa, und auch für Giedrė Šlekytė. Die alte Inszenierung wirkt auch heute noch frisch und berührend, wenn große Sänger sie mit Emotion gestalten. Was bleibt, sind große Gefühle nach einem ergreifenden Kammerspiel. Die Münchner Opernfestspiele werden das Werk sicher auch zukünftig in ihrem Repertoire haben.

Andreas H. Hölscher