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Magischer Klang

SYMPHONIE NR. 5 B-DUR
(Anton Bruckner)

Besuch am
30. Juni 2023
(Premiere)

 

Herkulessaal der Münchner Residenz

Christian Thielemann ist ein Klangmagier, das darf man wohl mit Fug und Recht so behaupten. Bei Wagner und Strauss ist das schon lange Gesetz. Nun hat sein Taktstock einen Komponisten erfasst, der irgendwo dazwischensteht und doch wieder ein Alleinstellungsmerkmal besitzt: Anton Bruckner. Und Thielemann und Bruckner, das ist eine Symbiose, die zu neuen Ufern strebt. Mittlerweile hat sich Thielemann auch den Ruf eines Brucknerexperten erworben, neben seinen Triumphen als Wagner- und Strauss-Dirigent. Es sind die Klang-Kathedralen und die kühne Satztechnik, die Bruckner so einzigartig, aber auch schwierig machen.  Der Komponist war zeitlebens ein tiefreligiöser Mensch, der über die Komposition von Messen und geistlichen Werken zur Symphonie kam. Die Werke haben alle etwas Mystisches, und die ersten Symphonien, vor allem die dritte, stehen in der Tradition Wagners. Doch Bruckner schafft es, sich vom musikalischen Übervater zu lösen und seinen Platz als Komponist in der Weltliteratur zu finden. Dazu verhilft ihm die Komposition seiner fünften Symphonie.

„Ganz benebelt“ sei Christian Thielemann gewesen nach einer Aufführung der Fünften unter seinem Förderer Herbert von Karajan. Seitdem begleiten ihn die Werke Bruckners, die er mit diversen Orchestern aufgeführt und eingespielt hat. Mit Blick auf das Bruckner-Jahr 2024, wenn der 200. Geburtstag des großen Romantikers ansteht, hat Thielemann sein Aufnahmeprojekt Bruckner 11 mit den Wiener Philharmonikern vollendet. Neben den bekannten neun Symphonien bietet die Edition noch eine frühe Studien-Symphonie und die sogenannte Nullte. Jetzt ist Thielemann mit eben Bruckners Fünfter als Gast am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks im Münchener Herkulessaal zu erleben.

Sein Debüt mit Bruckners Fünfter hätte bereits im April 2021 erfolgen sollen – die Corona-Pandemie hat es verhindert. Thielemann musste sich damals mit kleiner besetzten Werken von Strauss und Schumann begnügen, live übertragen aus der gähnend leeren Münchner Philharmonie im Radio und Video-Stream. Nun wird die großbesetzte Fünfte Symphonie nachgeholt im ausverkauftem Herkulessaal der Münchener Residenz, einem Klangtempel, in dem schon viele große Aufnahmen gelungen sind, wie die legendäre Einspielung von Wagners Tristan und Isolde unter Leonard Bernstein von 1981.

Bruckner selbst hat die Fünfte als sein „kontrapunktisches Meisterstück“ bezeichnet, strebt in diesem Formkunstwerk doch alles auf das durch eine Doppelfuge gekrönte Choral-Finale zu. Aus mystischem Urgrund tastet sich Bruckner in seine B-Dur-Symphonie vor, stellt monumentale Klangblöcke in den Raum, stimmt im Adagio feierliche Streichergesänge an und entfesselt im Scherzo stampfende Rhythmen. Es ist eine in ihrem Erfindungsreichtum wahrhaft „phantastische“ Symphonie, die Bruckner zu seinen Lebzeiten allerdings nie von einem Orchester gespielt gehört hat. Die Uraufführung fand am 8. April 1894 in Graz durch das Städtische Orchester unter Franz Schalk statt. Bruckner musste ihr wegen einer schweren Erkrankung fernbleiben. Schalk führte das Werk allerdings in einer entstellten Bearbeitung auf. Seine Fassung enthält Instrumentationsretuschen, ein gekürztes Scherzo und vor allem einen Strich von 122 Takten im Finale sowie die Einbeziehung eines Fernorchesters, Becken und Triangel in die Schlussapotheose des Werkes. Diese Fassung hat aber in der heutigen Aufführungspraxis keine Bedeutung mehr, da sich längst die Urfassung durchgesetzt hat. Deren Uraufführung fand allerdings erst am 23. Oktober 1935 durch die Münchener Philharmoniker unter der Leitung von Siegmund von Hausegger statt, knapp 40 Jahre nach dem Tod des Komponisten. Mit der Komposition der 5. Symphonie, die in der Nachbarschaft zu den früheren Symphonien und der Symphonie Nr. 6 wie ein monumentaler Block hervortritt, schuf Bruckner ein sehr persönliches Werk, das Werk eines Einsamen, eines tief im Glauben verwurzelten Menschen. Die Abhängigkeit von den Messkompositionen ist zur Entstehungszeit der Fünften abgestreift, eine gewisse Abhängigkeit von Wagner wie zu Zeiten der 3. Symphonie vollständig getilgt.

Mit solch großartigem Werk gibt Thielemann nun sein längst überfälliges Debüt im Herkulessaal der Münchener Residenz. Doch es ist nicht sein erstes Bruckner-Debüt in München. Seinen Einstand als Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker im November 2004 gab Thielemann ebenfalls mit Bruckners Fünfter, die Aufnahme wurde seinerzeit live im Radio übertragen und auf CD gebannt. Nun ist die spannende Frage, wie Thielemann sich in Bezug auf Bruckners Fünfte weiterentwickelt hat, insbesondere in puncto Tempo und Dynamik.

Um es vorwegzunehmen, die Aufführung, die im Übrigen ebenfalls live im Radio und im Video-Stream übertragen wird, gerät zum Triumphzug des Dirigenten mit einem großen Klangkörper in einem Klangtempel. Es passt alles an diesem Abend. Thielemann bringt diese Fünfte so zur Aufführung, dass auch dem Nichtkenner klar wird, dass Bruckner nicht nur opulente Musik komponierte, mit der er sich nach eigenen Worten der „Schwäche der gegenwärtigen Weltlage“ entgegenstellte, sondern als Genius das Kontrapunktische so zusammenbrachte und vermischte, wie es vor ihm so niemand gewagt hat. Thielemanns bekannte Mischung aus intellektueller Analyse und lustvoller Ekstase lassen die Aufführung zu einer musikalischen Sternstunde reifen. Thielemann zelebriert mit dem fantastisch aufgelegten Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einen sich gigantisch entfaltenden symphonischen Kosmos, der zwischen Transparenz und Überwältigung alle Facetten zeigt.

Schon den ersten Satz beginnt Thielemann mit einem Pianissimo, das das Publikum fast schon zwingt, das Atmen einzustellen. Und dann kommt aus dem Nichts ein Dreiklang, wie eine Eruption, und die Magie des Klangs nimmt den Zuhörer gefangen. Majestätisch und dynamisch erklingt der erste Satz, aber keineswegs gehetzt. Ganz im Gegenteil, mit 22 Minuten Dauer ist der Satz in etwa genauso lang wie bei der Aufnahme von 2004. Beim langsamen Adagio ist Thielemann minimal schneller, ohne dass es Auswirkungen auf die Sensibilität hat. Sehr einfühlsam dirigiert Thielemann, kommuniziert sehr intensiv mit Mimik und Gestik mit dem Konzertmeister. Da gibt es schon mal ein energisches Kopfschütteln und deutliche Signale mit der linken Hand, dem ein befreiendes Nicken folgt. Das Orchester folgt ihm bedingungslos, hochexpressiv und klangintensiv. Auch im dritten Satz ist Thielemann etwas schneller als bei seiner eigenen Referenzaufnahme, das Scherzo erklingt heiter und beschwingt im wahrsten Sinne des Wortes. Und dann kommt dieser unnachahmliche vierte Satz, das Finale, Adagio – Allegro moderato, das Wilhelm Furtwängler einst als das „monumentalste Finale der Weltliteratur“ bezeichnete. Mit einer grandiosen Doppelfuge steigert sich das Finale zum Höhepunkt, ein im strahlenden Blech prangender Choral, hier entfaltet Bruckner seine volle kontrapunktische Kunst, und hier entfesselt Thielemann ein klangmalerisches Finale furioso, dass einem die Luft wegbleibt. Es ist ein Moment für die Ewigkeit, und der mittlerweile 64-jährige Thielemann zeigt seinem Alter Ego vor zwanzig Jahren, wie Transparenz und Klangästhetik sich verändern können, ohne dass das Tempo signifikant angehoben oder gebremst wird.

Als die letzten Töne verklungen sind, meinen einige Unbelehrbare im Herkulessaal sofort mit dem Applaus ihren Emotionen freien Lauf lassen zu müssen, sie werden von der Mehrheit im Publikum gnadenlos niedergezischt, denn Thielemann hat den Taktstock noch längst nicht gesenkt. Etwa 20 Sekunden dauert es noch, eine gefühlte Ewigkeit der Stille, bis Thielemann die Spannung auflöst, und dann kennt der Jubel keine Grenzen mehr. Ein sichtlich bewegter, erschöpfter, aber auch hochzufriedener Dirigent nimmt die Ovationen eines überglücklichen Publikums entgegen und versäumt es nicht, sich mehrfach innig beim Konzertmeister zu bedanken und die einzelnen Orchestergruppen hervorzuheben.

Am folgenden Abend steht die Symphonie ein zweites Mal im Herkulessaal mit Thielemann und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf dem Programm, und an den kommenden zwei Sonntagen sind das Orchester und Thielemann in Bamberg und Bad Kissingen zu Gast. Das Konzert ist in der Audio-Mediathek von BR-Klassik nachzuhören.

Andreas H. Hölscher