O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Astrid Ackermann

Aktuelle Aufführungen

Im Stimmenolymp

SIEGFRIED
(Richard Wagner)

Besuch am
3. Februar 2023
(Premiere)

 

Isarphilharmonie München

Es ist die alte Diskussion. Kann eine konzertante Opernaufführung ohne Bühnenbild, ohne Kostüme und ohne Regie zum Erlebnis werden? Nun, Opern sind für die Bühne geschrieben worden, und die dramatischen Werke Wagners verlangen ja geradezu eine bildhafte und szenische Umsetzung. Ein Siegfried ohne Schmiedeszene, ohne Drachen, ohne eine vom Feuer umhüllte Brünnhilde, ist das nicht etwas wenig, selbst wenn hervorragende Sänger auf dem Podium stehen? Wer in letzten Monaten die Regiedarbietungen von Wagner-Werken verfolgt hat, der hat vielleicht den seligen Wunsch, diese Werke einmal pur und unverfälscht zu erleben, ohne dass eine unverständliche und am Werk vorbeigehende Inszenierung den Genuss trüben. Der Lohengrin in München im Dezember letzten Jahres oder aktuell die Götterdämmerung in Stuttgart sind solche Negativbeispiele, vom Ring in Bayreuth oder Berlin ganz zu schweigen. In München versucht man sich jetzt an einem Großprojekt, den Siegfried konzertant an zwei Abenden in der Isarphilharmonie, Münchens neuestem Konzertsaal mit Top-Akustik, einschließlich Live-Übertragung im Radio und Aufnahme für CD. Um die Eingangsfrage zu beantworten, diese erste Aufführung war nicht nur ein Erlebnis, sie war ein Ereignis, eine Sternstunde, wie man sie heutzutage nur noch selten erlebt. Das hat gleich mehrere Gründe.

Der erste Grund ist Dirigent Simon Rattle. Ab der kommenden Saison wird Rattle ja bekanntermaßen Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Es hat lange gedauert, bis das Orchester sich nach dem Tod seines langjährigen Chefdirigenten Mariss Jansons am 1. Dezember 2019 für einen Nachfolger entschieden hatte. Nun ist Rattle kein Unbekannter in München, bereits 2015 hat er mit dem Orchester das Rheingold und 2019 die Walküre ebenfalls konzertant auf CD eingespielt, beide Werke wurden im Herkulessaal der Münchner Residenz aufgeführt. Nun, weitere vier Jahre später, ist Rattle zurück in München, und zwar das einzige Mal in dieser Spielzeit vor seinem Antritt als Chefdirigent. Und dass sowohl das Orchester als auch das Publikum glücklich über diese Wahl sind, ist den ganzen Abend über zu spüren und am Schluss auch lautstark zu vernehmen.

Der zweite Grund ist die sängerische Garde an diesem Abend, die schon an eine idealtypische Besetzung dieses Werkes heranreicht, Bayreuth erfahren und gestählt. Dann steht mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein Wagner-erprobtes Ensemble auf der Bühne, ein Orchester mit herausragendem Rang und hoher Reputation. Die fantastische Akustik und die Größe der Isarphilharmonie bieten hier für eine gelungene Aufführung die idealen Rahmenbedingungen. Und wenn dann noch ein enthusiastisches Publikum dazu kommt, dann sind alle Voraussetzungen gegeben für ein großartiges Opernerlebnis, auch ohne Regie, Bühne und Kostüme, denn große Oper gelingt erst wirklich durch die Musik und den Gesang. Und beides ist an diesem Abend ohne Abstriche von höchster Güte.

Foto © Astrid Ackermann

Simon O’Neill hat in der Titelrolle des Siegfried sichtliche Freude. Er überzeugt durch seinen strahlkräftigen Tenor und seine strahlenden Höhen, die er im Schmiedelied im ersten Aufzug voller Engagement zum Ausdruck bringt. Dabei steht er nicht nur an seinem Notenpult, sondern tänzelt, hat immer Blickkontakt zu seinen Gesangspartnern, und die fehlende Personenregie wird durch seine ausdrucksvolle Mimik und Gestik mehr als wett gemacht. Zu großen Taten und gesanglicher Hochform schwingt er sich dann vor allem im dritten Aufzug auf. Zunächst das gesangliche Kräftemessen mit Michael Volle als sängerisch herausragendem Wanderer, um dann mit dem wunderbaren Liebesduett mit Brünnhilde sein emotionales Chaos zu sortieren, das in einen finalen tenoralen Jubelausbruch mündet.

Peter Hoare darf man sicher zurecht als Idealbesetzung des Mime bezeichnen, und das direkt mit einem fulminantem Rollendebüt an diesem Abend. Sein fokussierter Charaktertenor, seine Körperstatur und sein listiges Spiel geben diesem Sänger alles mit, was man für die Darstellung des kleinen Giftzwerges benötigt. Er deklamiert in einer absoluten Textverständlichkeit ohne Akzent, was heute auch nicht mehr selbstverständlich ist. Mit den vielen Färbungen seiner Stimme lässt er den tiefschichtigen Charakter dieser Figur deutlich werden. Und Hoare ist gelernter Perkussionist und lässt es sich nicht nehmen, an den entsprechenden Stellen neben dem Gesang mit zwei Hämmern den kleinen musikalischen Amboss zu beackern, eine starke Leistung, die am Schluss zurecht umjubelt werden wird.

Über Michael Volle als Wotan oder Wanderer zu sprechen hieße, Eulen nach Athen zu tragen, er hinterlässt an diesem Abend wie so oft in den letzten Jahren einen überwältigenden Eindruck als Wanderer. Er begeistert mit seinem kräftigen und ausdrucksstarken Bariton und überzeugt auch durch sein Charakterspiel, insbesondere bei der Wissenswette mit Mime im ersten Aufzug, ein absolutes Glanzstück. Wenn er Auf wolkigen Höhen wohnen die Götter intoniert und dann das Walhall-Motiv erklingt, dann ist das ganz großes Gefühl und Gänsehaut pur.

Auch aus einer konzertanten Aufführung macht Volle alleine durch seine Bühnenpräsenz ein Ereignis. Zweifellos ist Volle nicht nur der führende Hans-Sachs-Interpret in Wagners Meistersingern, er ist derzeit auch der Wotan schlechthin, weil er neben Ausdruck und Stil im Gesang eine saubere und kultivierte Aussprache pflegt. Das zeigt er sowohl in der dramatischen Auseinandersitzung mit Siegfried, und ganz besonders zuvor in der Erda-Szene zu Beginn des dritten Aufzuges. Volle singt nicht den Wotan, er ist Wotan, mit einer unglaublichen Aura und Bühnenpräsenz. Volle, der mit über sechzig Jahren auf dem Zenit seiner Gesangskarriere steht, ist ein Erlebnis, das allein schon das Eintrittsgeld wert ist. Man kann nur hoffen, dass er auf diesem höchsten Niveau noch einige Jahre singen kann.

Anja Kampe als Brünnhilde ist ein Garant für anspruchsvolle Gesangsdramatik. Sie weiß durch einen klaren und strahlenden Sopran zu betören, mit einer warmen und erotisierenden Mittellage. Ihr Heil dir Sonne, heil dir Licht klingt wie eine Offenbarung, ihr Fürchtest du nicht das wild wütende Weib schleudert sie förmlich heraus. Das Schlussduett mit Simon O‘Neill entwickelt sich zu einem überschäumenden, ja, schon fast orgiastischen sängerischen Wettstreit, bei dem beide mit dem finalen Leuchtende Liebe, lachender Tod das Publikum förmlich von den Sitzen reißen.

Foto © Astrid Ackermann

Georg Nigl gibt den Alberich mit kraftvollem und markantem Bariton, in Mimik und Gestik interpretiert er die Rolle böse, mit großer Körperspannung und sauberster Deklamation. Der Dialog mit dem Wanderer im zweiten Aufzug ist ein auch stimmlicher Wettstreit zweier exzellenter, ausdrucksstarker Stimmen. Franz-Josef Selig verleiht dem Riesen Fafner einen voluminösen, schwarzen Bass. In seinem ersten Auftritt steht Selig auf dem Podium hinter den Harfen und singt durch einen Trichter, um den Höhleneffekt auch gesanglich darzustellen, für die Sterbeszene kommt er dann nach vorne. Großartig auch Gerhild Romberger in der Partie der Erda, die ihre Figur ausdrucksstark mit warmem und dunklem Alt gestaltet. Mit schönem und textverständlichem Koloraturgesang leiht Danae Kontora vom Rang aus dem Waldvogel ihre Stimme.

Der Solo-Hornist des Symphonieorchesters, Carsten Duffin, spielt den berühmten „Siegfrieds-Ruf“, ein knapp zweiminütiges Horn-Solo im zweiten Aufzug. Das Solo hat Duffin schon dreimal bei den Bayreuther Festspielen geblasen, der Ritterschlag für einen Hornisten. Bei der konzertanten Aufführung steht er nun sichtbar für alle Zuschauer an der Seite, und Duffin meistert das Solo eindrucksvoll mit Bravour.

Simon Rattle führt das Orchester mit facettenreichem Spiel durch die schwierige Partitur. Präzise werden die Leitmotive herausgearbeitet, und die Bläser spielen sauber akzentuiert. Besonders im schon fast kammermusikartigen Waldweben erzeugt Rattle ein musikalisches Siegfried-Idyll. Er begleitet die Sänger sicher durch die Partie, hat immer Blickkontakt, atmet oder singt mit und hat immer ein Lächeln für seine Musiker übrig. Die gefährlichen Forte-Stellen der Partitur hat er souverän im Griff.  Das Tempo ist moderat, mit schnellen Anzügen und expressiven Ausbrüchen, aber insgesamt sehr sängerfreundlich. Die großen Orchesterstellen, wie das Vorspiel zur Erda-Szene im dritten Aufzug, sind symphonische Klangmalerei, die sich im weiten Raum der Isarphilharmonie zu einem musikalischen Gemälde entwickeln. Eine großartige Leistung des Orchesters.

Am Schluss, wie schon nach den ersten beiden Aufzügen, gibt es großen Jubel und Bravo-Rufe für alle Sänger sowie für Rattle und das Orchester. Rattle ist am Schluss so gelöst, dass er den Konzertmeister innig umarmt. Da wächst in München was großes zwischen Orchester und Dirigent. Das Publikum jedenfalls feiert diesen konzertanten Siegfried und vor allem seine erstklassige Besetzung enthusiastisch. Glücklich die, die live dabei sein können oder es bei der zweiten Vorstellung zwei Tage später sein dürfen. Bleibt die Frage, ob es wieder vier Jahre dauern wird, bis Rattle dann auch die Götterdämmerung konzertant aufführen und einspielen wird? Nach dieser Aufführung möchte man definitiv nicht solange warten.

Andreas H. Hölscher