O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Klug durchdacht

SEMELE
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
15. Juli 2023
(Premiere)

 

Bayerische Staatsoper München, Münchner Opernfestspiele

Aufgeregte und sommerlich aufgeheizte Stimmung herrscht kurz vor Beginn im Prinzregententheater in München, die Premiere von Georg Friedrich Händels Semele steht bevor, eine Koproduktion der Bayerischen Staatsoper mit der Metropolitan Opera New York. Mehr als drei Stunden Barockoper erwarten die Zuschauer auf den harten Stühlen des Theaters, zwei Pausen. Ein langer Abend bei rund 38° C und dazu die langen da-capo-Arien, man wird sehen.

Kurz nachdem die Ouvertüre mit dem Orchester auf Barockinstrumenten noch etwas polternd begonnen hat, beginnt man zu staunen: Ein Traumbild von einem Brautpaar steht im Lichtkreis hinter der Projektion eines leichten, grieseligen Ascheregens und angedeuteten Vogelschwingen. Plötzlich duckt sich die Braut unter den Ärmeln des Kleides hinweg. Das Kleid bleibt stehen und sie verlässt den Bräutigam, um dann wieder zurückzukehren: Semeles Dilemma ist hier schon fast erzählt. Man kann jetzt schon sehen, was Regisseur Claus Guth hier auf die Bühne bringt: klug durchdachtes, visuelles Theater, gepaart mit einer herrlichen Musik.

Händel greift mit dem Werk den Mythos der Semele auf, wie er bei Ovid in den Metamorphosen beschrieben wird. Semele soll gleich Athamas heiraten, liebt aber eigentlich Jupiter, ihre Schwester Ino dagegen liebt Athamas. Guth lässt die Szene in einem hohen, weißen Saal spielen, in dem eine moderne Hochzeitsgesellschaft das Brautpaar mit den üblichen Ritualen feiert. Da werden überall Fotos gemacht, von den Brautjungfern und den Junggesellen der Gesellschaft, von den Eltern der Braut. Im Hintergrund übergroße Buchstaben, mit weiß-rosa Blüten belegt, die das Wort Love schreiben, sie dienen im Lauf der Oper auch immer wieder als Requisite, hier als Rahmen für die Fotos. Aber die Idylle trügt, erst graue, dann schwarze Filmfetzen geistern über die Szene, realisiert von der in München durch Aida schon bestens bekannte Videofirma Rocafilm von Roland Horvath. Vogelschwingen kann man ausmachen, einen schwarzen Greifvogelkopf. Auf Semele wirkt das alles sehr anregend, sie mischt die Szene auf, wirft das Wort Love um und singt dabei im herrlichsten Piano ihre erste da-capo-Arie. Derweil machen die Bediensteten – eine fast schon akrobatische Truppe – munter weiter, richten die Festtafel her, während Semele ihren Kummer wegen des fernen Geliebten beweint.

Und das zeichnet Guths Inszenierung aus: Bei den langen barocken Arien wird es dem Zuhörer nicht langweilig, immer ist etwas zu sehen, was aber nie nur bloße Staffage, sondern immer ein Mittel ist, um die Aussage zu vertiefen.

Zur Katastrophe kommt es, als Jupiter sich weiter nähert, Glühbirnen platzen. Feuer scheint auf, die Hochzeitsgesellschaft gerät in Panik, und Semele attackiert hysterisch mit einer Axt die Wand, schafft ein Loch, durch das Jupiters Geist endgültig der Eintritt in diese Welt gelingt. Semele gleicht sich ihm an, erscheint im schwarzen Brautkleid, wechselt fortan die Farbe je nach Weltenzugehörigkeit, die reale Welt in Weiß, Jupiters Welt in schwarz gehalten.

Ein Vorhang aus schwarzen Federn, diffus und bedrohlich wirkend, bildet den Hintergrund für das Duett zwischen Jupiters Ehefrau Juno und ihrer Botin Iris über Junos Eifersucht und den Aufenthaltsort der neuen Geliebten ihres Mannes. Toll, was beide Frauen da vor dem Vorhang entfachen, die wutsprühende Juno und eine sich lasziv räkelnde Iris. Die Künste von Gott Somnus, Herr über den Schlaf, sollen helfen. Derweil schwelgt Semele in süßen Wonnen mit allen Liebesgöttern.

Athamas tritt als Cupido auf, der Zephyrs Winde anstachelt, die schläfrige Semele weiter zu inspirieren. In kleinen Andeutungen wird immer wieder Bezug auf die Handlung genommen, da wirft Semele den herumliegenden Brautstrauß, Ino fängt ihn auf, behält ihn aber nicht, da sie Athamas‘ Liebe zu Semele spürt. Das ist kein Klamauk, sondern gut durchdachte Regie, und wenn Semele auch nur tief einatmet, merkt man im Publikum eine Spannung über den weiteren Verlauf, die sich schließlich in begeistertem Zwischenapplaus entlädt.

Die Szene weitet sich wieder zum großen Saal, der mit Löchern übersät ist, Zeugnis der Wutausbrüche Semeles. Aus der Höhe hängen Lianen aus schwarzen Federn herab und aus der Wand steigen schwarze Vogelwesen heraus, die Vorhut Jupiters, der die Bühne nun als schwarzer Adler mit Federschwingen betritt. Ein sehr inniger Moment der Aufführung zeigt Jupiter, wie er mit seinen Flügeln Semele umfängt, unbeschwertes Liebesglück soll sie nun erleben. Aber wie das so ist in der Oper: Schon Orpheus wendet sich nach Eurydike um, im Lohengrin kann sich Elsa nicht der Frage nach Lohengrins Herkunft erwehren, und so gibt sich auch Semele nicht mit ihrem Zustand zufrieden, sondern ersehnt die Göttlichkeit. Jupiter ahnt Übles und versucht mit allen Mitteln, seine Geliebte abzulenken. Nachdem seine eigenen, durchaus ansehnlichen Tanzkünste dafür nicht ausreichen, inklusive eines Cancans mit den anderen Tänzern, ruft er sogar Athamas zur Hilfe, der einen fulminanten Breakdance hinlegt. Stürmische Reaktion im Publikum. Aber nichts bringt Semele von ihrem Wunsch ab.

Guth zeigt hier die Ambivalenz der Szene auf: Im großen Saal herrscht Chaos, überall liegen schwarze Federn herum, der Chor ist, immer noch ganz in Schwarz, in dieses Chaos wild hineindrapiert. Dazu singt Jupiter seine schönste Arie, Where’er you walk, coole gales shall fan the glade; Trees, where you sit, shall crowd into a Shade. Großes Theater!

Dritter Akt, die Welten sind vermischt, Semele rennt durch ein Gewirr von schwarzen Lianen im großen Saal umher. Juno weckt ihren treu ergebenen Adlaten Somnus, Gott des Schlafes, der sich einzig nach Pasithea sehnt. Die verströmt in einer Vertikalakrobatik Sinnlichkeit, schön fürs Auge. Juno bereitet bei Semele den finalen Todesstoß vor, indem sie ihr den Wunsch nach Jupiters echter Gestalt einimpft. Das ist ihr Untergang, denn die wahre Erscheinung des mighty thunderer ist zu machtvoll und verderbend für Menschen.

Am Ende ist Semele kaum noch fähig zu singen, erbärmliches Wimmern entspringt ihrer Kehle, verloren und wie eine Geschändete schwankend geistert sie im alten Hochzeitssaal umher. Am Ende verbrennt sie in Jupiters Blitzen, letztendlich am eigenen, überschäumend-jugendlichen Lebenswillen. Ino heiratet in der vom Anfang fortgeführten Zeremonie Athamas, kann aber ob einer schwarzen Feder auf dem Bühnenboden, die sie an Vergangenes erinnert, alles nicht so ganz genießen. Apollo singt aus dem Off die Weissagung von der Geburt des Dionysos, Sohn von Semele und Jupiter, und Semele sitzt am Ende apathisch mit einem Kind im Arm inmitten der Szene und wird als ein Phönix aus der Asche auferstehen.

Nach einer Reihe von Händel-Inszenierungen an der Bayerischen Staatsoper, die für Aufsehen sorgten – man erinnert sich gerne an Ann Murrays Soli im Schatten von Dinosauriern – ist dem Haus wieder ein großer Wurf gelungen. In der Regie von Claus Guth erlebt das Premierenpublikum eine folgerichtige, fulminante, zum Teil witzige, aber auch sehr berührende Neudeutung der Semele. Unterstützt wurde Guth durch Bühnenbildner Michael Levine, Kostümbildnerin Gesine Völlm und Lichttechniker Michael Bauer, die allesamt mit dem Regisseur an einem Strang zogen und sozusagen ein Gesamtkunstwerk erschufen.

Tänzer unter der Choreografie von Ramses Sigl haben einen großen Anteil am Gelingen des Abends, sorgen sie doch immer wieder für Auflockerungen bei langen Arien, mal als Kellner, mal als Liebesgötter, Semele umgarnend und erhöhend.

Was aber wäre das alles ohne die wirklich grandiosen Sänger der Produktion? Bis in die kleinsten Nebenrollen bestens besetzt, trumpft die Bayerische Staatsoper mit der Crème de la Crème auf. Wirklich selten hört man eine Aufführung, bei der man in jeder Rolle eine Spitzenbesetzung vorfindet. Allen voran Brenda Rae als Semele. Sie stürzt sich ohne Sicherheitsnetz in ihre halsbrecherischen Koloraturen, nimmt bei langen Läufen die Stimme etwas zurück, lässt sie dann aber wieder aufblühen und bis in die hohen Höhen frei und weich schwingen. Ihr umwerfendes Piano fasziniert und ist am Ende bei ihrer Selbstaufgabe kaum noch zu ertragen. Dazu ist sie eine intensive Schauspielerin auf der Bühne, die den Charakter der Semele absolut glaubhaft verkörpert. Jakub Jósef Orliński als Athamas mutiert nicht erst durch seine professionell vorgetragene Breakdance-Einlage zum Publikumsliebling. Sein schlackenloser, warmer und auch in den Höhen nicht scharfer Countertenor zeigt immer wieder große Kraft, betört durch sein weiches Piano und begeistert bei seiner Arie Come Zephyrs, die im Libretto eigentlich Amor singt, mit samtigen Tönen. Der baritonal gefärbte Tenor von Michael Spyres lässt es an nichts fehlen, hat fundierte Tiefen und kernige Höhen, ein verführerisches Timbre und spielt sich mit seiner Beweglichkeit zusätzlich in die Herzen der Zuhörer. Emily D’Angelo bringt für die Juno einen kräftigen, runden Mezzosopran mit. Töne, die im Raum fast greifbar werden, schleudern den Zuhörern ihre Wutausbrüche um die Ohren, können aber auch sinnlich verführen, als sie Iris ihre List erklärt. Nadezhda Karyazina zeigt als Semeles Schwester Ino einen glutvollen, leidenschaftlichen Sopran und ist auch schauspielerisch überzeugend. Die Rolle der Botin und des Wedding Planners ist mit Jessica Niles hellem, obertonreichen und teils flirrendem Timbre absolut passend besetzt. Philippe Sly gibt einen sonoren Cadmus und einen herrlich verschlafenen Somnus mit schläfrigem, ungeheuer entspannt flutendem Bassbariton. Selbst Milan Siljanov als Hohepriester und Jonas Hacker als Apollo in den Nebenrollen stehen den Hauptakteuren in nichts nach und runden das Ensemble perfekt ab.

Der Chor unter der Leitung von Sonja Lachenmayr singt fabelhaft und illustriert die Handlung nicht nur durch lupenreine und intensive Chöre, sondern hat einen immensen Anteil am dramatischen Geschehen auf der Bühne. Gianluca Capuano leitet das auf historischen Instrumenten spielende Orchester mit Streichern, Bläsern, Theorbe, Barockharfe, zwei Cembali, Orgel und historischen Pauken vom Instrument aus mit großem Elan, scharfen Akzenten, und unterstützt die Sänger sehr aufmerksam. Was bei der Ouvertüre manchmal noch etwas dumpf klingt, entwickelt sich zu einem klaren, durchsichtigen und die Sänger wunderbar tragenden Klangteppich.

Die Zuschauer reagieren begeistert und feieren alle Mitwirkenden mit teils stehenden Ovationen lange und ausführlich.

Jutta Schwegler