Kulturmagazin mit Charakter
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DER ROSENKAVALIER
(Richard Strauss)
Besuch am
11. Mai 2022
(Premiere am 21. März 2021)
Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Dieser Song, der immer zum Abspann des Zeichentrickfilms Der rosarote Panther lief, kommt einem fast unwillkürlich in den Sinn, wenn man die Münchner Inszenierung des Rosenkavaliers von Richard Strauss betrachtet. Und vielleicht hat sich auch Barrie Kosky an diesen Comic-Klassiker erinnert, denn das Thema Zeit wird von ihm aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitzonen betrachtet. Doch zunächst einmal ist in München ein neues Zeitalter angebrochen. Fast ein halbes Jahrhundert stand in München die legendäre Inszenierung von Altmeister Otto Schenk auf dem Spielplan, untrennbar verbunden mit der großartigen musikalischen Interpretation eines Carlos Kleiber. Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, singt die Marschallin, und das gilt im übertragenen Sinn für die Vergänglichkeit. Nun ist die Münchner Kultinszenierung seit einem Jahr Vergangenheit, und ein neues Zeitalter bricht an, inszenatorisch, aber auch musikalisch.
Für Komödien mit Slapstick-Elementen, die auf den Punkt gearbeitet sind, ist Barrie Kosky bekannt, nicht zuletzt durch seine Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg in Bayreuth. Für Kosky sind die drei Akte dieses Werkes wie drei unterschiedliche Opern. Für ihn ist der erste Akt, der Marschallin-Akt, „in seiner Klangsprache und in seiner theatralen Sprache perfekt gebaut.“ Wenn der zweite Akt beginnt, sei es für Kosky „fast schockierend, wie anders das plötzlich ist – szenisch, aber auch klanglich. Es ist wie eine neue Oper.“ Ähnlich sei es im dritten Akt, in dem Strauss am stärksten „mit einer zeitgenössischen Klangfarbe spielt und mit der Pantomime am Anfang ein Spiel im Spiel etabliert wird.“
Im Rosenkavalier steht für ihn aber auch die Zeit gleich in mehrfacher Hinsicht im Vordergrund. Einerseits natürlich im Stück, vor allem in Bezug auf die Marschallin, die über die eigene Vergänglichkeit sinniert. Andererseits aber auch in Bezug auf die Entstehung des Stücks, das im 18. Jahrhundert zur Zeit Maria Theresias spielt, das durchzogen ist von Walzer-Melodien, die im 19. Jahrhundert entstanden, und das bestimmt ist durch die psychologischen Erkenntnisse von Siegmund Freud aus dem 20. Jahrhundert. Deswegen möchte Kosky sich nicht auf eine bestimmte Zeit festlegen, sondern spielt mit Zeitzonen und deren Stilen. Von Rokoko-Elementen über Jugendstil bis hin zur Moderne, bei Kosky ist alles dabei, und hat doch seine Berechtigung und seinen Platz.
Am Anfang dominiert eine große Standuhr die Szenerie. Zunächst rotieren die Zeiger anachronistisch, dann dreht sich das Ziffernblatt um die eigene Achse, während dazu die Musik aus dem Orchestergraben erotisch schmachtend ihre eigene Zeit vergisst. Die Marschallin, aufreizend im durchsichtigen Negligee, und Octavian im schwarzen Einteiler, im eindeutigen Liebesspiel. Kosky deutet die Erotik im Rosenkavalier nicht nur an, sondern schmückt sie mit deutlichen Bildern, ohne dabei plump oder unästhetisch zu werden.
Im Vordergrund stehen zwei Beziehungsebenen, die durch das kongeniale Zusammenwirken von Richard Strauss mit dem Dichter Hugo von Hofmannsthal musikalisch und textlich verwoben werden. Da ist die reife, sich im besten Alter befindliche Feldmarschallin Fürstin Werdenberg, und ihr gerade mal siebzehn Jahre alter Geliebter Octavian, der locker ihr Sohn sein könnte. Eine in der heutigen Zeit zwar auch eher ungewöhnliche Beziehung, aber im Wien zu Kaiser Maria Theresias Zeiten ein unerhörter Skandal, zumal es sich bei der Fürstin ja um die Gattin des Feldmarschalls handelt. Ein leidenschaftlicher Kuss, suchende Hände des jungen Geliebten auf der Brust der Marschallin, und die Uhr tickt. Es ist ein großer dunkler Raum, in dem sich die beiden Liebenden verstecken, ohne Bett zum Liebesspiel. Es ist mehr ein Raum der Nacht, der tiefen Sehnsucht. Und doch ist es nur eine oberflächliche Beziehung der beiden, die der Fürstin schmerzhaft die Verletzlichkeit des Alters vor Augen hält und dem Wissen, dass ihr junger Geliebter sie bald wegen einer Jüngeren verlassen wird.
Dann gibt es noch eine Figur, die Kosky dazu erfunden hat und das Stück über omnipräsent ist. Ein alter Mann, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, mit Flügeln auf dem Rücken, eine Pan-Flöte um den Hals. Ein alternder Amor oder Cupido, oder einfach nur Chronos, der Zeitdieb? Sehr wahrscheinlich eine Mischung von beiden. Im ersten Aufzug bläst er den Verliebten Zauberstaub ins Gesicht, und die Szenerie wird erhellt. Im weiteren Verlauf zeigt Kosky, dass er ein Meister des subtilen Humors ist. Octavian, jetzt als Stubenmadl Mariandl verkleidet, weckt sofort das sexuelle Verlangen des reingepolterten Ochs auf Lerchenau, das Konversationsduett wie -Terzett ist einfach nur köstlich. Der anschließende Empfang der Marschallin gleicht einem Aufzug aus einem Panoptikum, die Damen und Herren scheinen wie Zeitreisende aus unterschiedlichen Welten zu kommen. Herausragend dabei Galeano Salas als Sänger, gepudert und gedresst wie aus einer Barockoper Monteverdis, der die italienische Arie mit viel Schmelz und gestelztem Habitus gibt.
Foto © Wilfried Hösl
Zum Ende des ersten Aufzuges, den Kosky ganz der Marschallin gewidmet hat, nimmt die innerlich schon Abschied von Octavian. Die Zeit, man muss sich vor ihr nicht fürchten, sind ihre weisen Worte, während sie in die überdimensionierte Standuhr geht und sich auf das Uhr-Pendel setzt, ein tolles Bild, sowohl bühnentechnisch als auch als Metapher.
Der zweite Aufzug gehört Sophie, und ihr Erleben der ersten Liebe mit Octavian und die versuchte Verheiratung mit dem Ochs erlebt sie wie in einem Traum, wobei Liebestraum und Albtraum sich dabei ständig abwechseln. Das Bühnenbild besteht aus einer riesigen Gemäldegalerie mit barocken Bildern, mit einem Bett in der Mitte, Handlungsmittelpunkt des Traumes. Das Bühnenbild für die Inszenierung schuf Rufus Didwiszus, die zum Teil sehr aufwändigen Kostüme aus verschiedenen Zeitepochen stammen von Victoria Behr. Der optische Höhepunkt der Inszenierung ist die Rosenüberreichung. Octavian erscheint in einer großen, silberfarbenen Kutsche, von Cupido gelenkt, von König Ludwig II ausgeborgt. An dieser Stelle gibt es großen Szenenapplaus für das Setting. Kosky liebt Doppelungen von Figuren. In seinen Bayreuther Meistersingern hat er gleich mehrere Wagners auf die Bühne gebracht, in dieser Szene springen aus der silbernen Kutsche gleich ein Dutzend Octavians.
In silberfarbener Galauniform überreicht der echte Octavian die silberne Rose, ein Moment, an dem Kitsch und Tiefsinn, barocke Opulenz und Neuzeit gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das Gefolge des Ochs scheint wie aus den Gemälden entsprungen zu sein, und der Traum der jungen Liebe wandelt sich in einen Albtraum, als das Kupplerpaar Valzacchi und Annina mit Teufelshörnern versucht, das junge Paar mit Kissen zu ersticken, und Cupido steht im Hintergrund, beobachtend und irgendwie schützend. Es folgt der Auftritt des Ochs, der im Duell mit Octavian am Zeigefinger verletzt wird und ein Mordsspektakel veranstaltet. Dann erscheint der Möchtegern-Adlige Herr von Faninal, auch mit Teufelshörnern, und irgendwann ist der Albtraum vorbei, die Fronten sind vorerst geklärt.
Der dritte Aufzug gehört Octavian und seinem Alter Ego Mariandl, und hier spielt Kosky mit den Geschlechtern. Eine Frau, die einen Mann spielt, der wiederum eine Frau darstellt. Selten ist ein Octavian so feminin, so weiblich dargestellt worden, nicht die klassische Hosenrolle. Und Kosky spielt nicht nur mit den Geschlechterrollen, sondern auch wieder mit der Zeit, und der Schlussakt spielt als Theater im Theater, mit einem Zuschauerraum, in dem das Geschehen zwischen dem Rendezvous zwischen Ochs und Mariandl an einer großen Tafel beobachtet wird, und natürlich artet die Szenerie typisch Kosky in ein großes Tohuwabohu aus, bevor die Zeit wieder zuschlägt und am Schluss die Marschallin endgültig Abschied nimmt von ihrer Liebe und dem jungen Paar Octavian und Sophie das Glück gönnt. Hab`s mir gelobt ist die große Abschiedselegie.
Das Schlussbild ist beeindruckend und mehrdeutig. Die Marschallin verlässt die Szenerie, Octavian und Sophie schweben an unsichtbaren Seilen in die Höhe, während die große Uhr mit Cupido respektive Chronos sich um die eigene Achse dreht. Der stumme Bote schnappt sich den großen Zeiger der Uhr, um dann im Bühnenboden zu verschwinden. Alles war ein Traum, jetzt ist es vorbei, die Zeit ist um.
Barrie Kosky hat mit seiner Inszenierung des Rosenkavalier an der Bayerischen Staatsoper und seinem Wechselspiel von Zeiten, Stilen und Perspektiven die Beziehungsebenen der handelnden Personen pointiert akzentuiert und in den Vordergrund gestellt. Besonders die Fürstin stellt Kosky als großen Charakter da. Auch Octavian, sonst der stets sprunghafte und ungestüme, ja noch pubertierende Teenager, zeigt hier eine für sein Alter schon weit entwickelte Reife. Auch Sophie ist nicht mehr nur das kleine Hascherl, das unter die Haube kommen soll, sondern eine junge, selbstbewusste Frau, die schnell weiß, was sie will. Dafür darf der Ochs ein etwas rüpelhafter, aber nicht unsympathischer Grobian sein, und alle weiteren Charaktere werden überspitzt gezeichnet, mit viel Situationskomik. Kosky zeigt hier auf eindringliche Art und Weise die Möglichkeiten und die Unmöglichkeit von Liebe, die Dringlichkeit und die Unerbittlichkeit der vergehenden Zeit, die Unverzichtbarkeit und unerbittliche Bedingtheit von Autonomie und Entscheidungsfreiheit auf. Und ein beeindruckendes Ensemble schafft es, die Vorgaben Koskys sängerisch und spielerisch zu einem großen Opernerlebnis zu transferieren.
Foto © Wilfried Hösl
Bei der Premiere vor einem Jahr, die wegen des Corona-Lockdown nur im Stream zu sehen war, gelang Marlis Petersen im schon reiferen Alter ein beeindruckendes Rollendebüt. Nun hat sie diese Rolle weiter verinnerlicht und mit wunderbaren Konturen gezeichnet. Anfangs noch fast jugendlich ungestüm, entwickelt sie im Laufe der Partie eine bittersüße Melancholie in der Rolle. Ihr warmer, jugendlich dramatischer Sopran verfügt einerseits über eine hohe Strahlkraft, andererseits legt sie die Partie mit hoher musikalischer Intelligenz und Differenziertheit an. Ihr anfangs erotisches Spiel ist von einer großen Grandezza, doch in den innigen, schmerzlichen Momenten zeigt sie auch musikalisch die große Verletzlichkeit dieses Charakters, besonders beim Verzicht auf Octavian. Es ist aber auch erneut ein großer Abend für Samantha Hankey, die mit der Partie des Octavian sängerisch und schauspielerisch alle Facetten ihres Könnens zeigen kann und dem jungen Galan dabei neben großer Leidenschaft auch eine interessante Ernsthaftigkeit verleiht. Dass die Hankey auch echt komisch kann, zeigt sie in der Verkleidung als Mariandl im dritten Aufzug. Mit ihrem warmen Mezzosopran, der nicht nur ein breit angelegtes Fundament besitzt, sondern auch wunderbare Spitzentöne erzeugen kann, weiß sie zu begeistern. Liv Redpath in der Partie der Sophie zeigt, dass sie über die strahlenden Höhen und den Liebreiz in der Stimme verfügt, die für die Gestaltung der Partie so wichtig ist. Im Zusammenspiel mit Hankey entwickelt sich zudem eine elegische Stimmenharmonie, was die Rosenüberreichung im zweiten Aufzug und das finale Duett im dritten Aufzug zu einem magischen Moment werden lässt. Christof Fischesser gibt mit seinem markanten Bass einen herrlich derben und rüpelhaften Ochs auf Lerchenau, ohne dass der unvermeidliche Wiener Schmäh und der herrliche Dialekt in dieser Rolle zu kurz kommen. Dabei klingt seine Stimme manchmal so balsamisch schön, und sein Spiel ist immer einem Augenzwinkern nah, dass man diesem Grobian eigentlich nicht böse sein kann und ihm sein manieriertes Verhalten einfach verzeihen muss.
Johannes Martin Kränzle als eitler Herr von Faninal überzeugt mit Stimmgewalt und wuchtigem Spiel. Daniela Köhler verleiht mit spitzem Sopran der Rolle der Jungfer Marianne Leitmetzerin große Dynamik. Ulrich Reß als Valzacchi und Ursula Hesse von den Steinen als Annina sind als intrigantes Paar eine Idealbesetzung. Galeano Salas darf in seinem Kurzauftritt als italienischer Sänger mit tenoralem Schmelz und großem Ausdruck eine besondere Duftnote hinterlassen, auch wenn man ihn in seinem schweren barocken Kostüm schon etwas bemitleiden muss. Alle anderen Rollen sind sängerisch und spielerisch auf hohem Niveau besetzt.
Musikalisch gibt es an diesem Abend auch so einige magische Momente. Der GMD der Bayrischen Staatsoper, Vladimir Jurowski, leitet das Bayerische Staatsorchester mit dem richtigen Gespür für die Schönheit, aber auch die Tücken der Strausschen Musik durch die Partitur. Er schwelgt in Walzerseligkeit, lässt es poltern und krachen, um dann die innigen Momente punktiert herauszuarbeiten. Hervorzuheben ist seine fast schon zärtliche Begleitung der Rosenüberreichung und des großen Finales im dritten Aufzug. Wie er das Orchester zum Ende des Terzetts zu einem schon elegischen Höhepunkt führt, das ist so ein magischer Moment. Am Schluss gibt es fast grenzenlosen Jubel des Publikums für das Orchester und das Sängerensemble, und die Hauptprotagonisten sowie Dirigent Jurowski dürfen zu Recht die Ovationen entgegennehmen.
Mit Koskys Neudeutung hat an der Münchner Staatsoper zumindest in puncto Richard Strauss und seinem Rosenkavalier eine neue Zeitrechnung begonnen, die das Zeug hat, eine erneute Ära einzuleiten.
Andreas H. Hölscher