O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Anni Klatte

Aktuelle Aufführungen

Geschichte wird Gegenwart

ORFEO
(Monteverdi, Gluck, Graun, Haydn)

Besuch am
14. März 2018
(Uraufführung)

 

Zuflucht Kultur, Münchner Hofspielhaus

Der Verein Zuflucht Kultur engagiert sich für Frieden und Völkerverständigung durch Kultur. In der Neugestaltung klassischer Opern wird unter Einbezug aktueller gesellschaftlicher und sozialer Problemstellungen ein musikdramatisches Gebäude geschaffen, in dem ein spezieller Mix aus Künstlern zum Teil mit Migrationshintergrund zusammenkommt. Die Handlung nimmt Bezug zu persönlichen Schicksalen als auch zur politischen Debatte. Die Aufführung des nun vorgestellten Orfeo im Münchner Hofspielhaus reiht sich nach Cosi fan tutte, Zaide, Idomeneo und Carmen in die Projekte ein. Musikalisch wird auf verschiedene Vertonungen des altgriechischen Stoffes von Claudio Monteverdi, Christoph Willibald Gluck, Carl Heinrich Graun und Joseph Haydn zugegriffen und hieraus eine Reihe verschiedener Musiknummern gestaltet. Inhaltlich wird die historische Handlung in die aktuelle politische Realität des Nahen Ostens verlegt und Bezug zur bedrückenden Lebenssituation in Syrien, der Rolle der Frau und der Flüchtlingsthematik geschaffen. Angereichert mit literarischen Texten und dem Manifest der Khanssaa-Brigade, einer rein weiblichen Einheit des islamischen Staates, wird der Orient und der arabische Geist, vorgetragen durch syrische Flüchtlinge, lebendig.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Meeresrauschen eröffnet den Abend, meditierend sitzt der Prophet Al Mustafa am Meer und wartet auf ein Schiff für seine Flucht aus Syrien. Freunde gesellen sich zu ihm, und der traurige Anlass wird zu einer munteren, freundschaftlichen Abschiedsfeier. Der Wunsch nach einer letzten Erzählung durch den Propheten über die Liebe und Abschied wird laut. Passend wählt er das Märchen von Orpheus und Eurydike, arbeitet aber die traurige Realität ihrer Umgebung ein. Aus dem Freundeskreis schälen sich Cornelia Lanz als Orfeo und Sela Bieni als Eurydike heraus, werden in deren Rollenkostüme gesteckt und so wird eine eigene Erzählebene geschaffen. Eurydike verlässt Orfeo ohne Schlangenbiss, um ihre Existenzkrise zu lösen, verfällt in religiösen Wahn und schließt sich einem Führer des so genannten Islamischen Staates an. Orfeo wird von Göttern zur und auf der Suche geleitet, findet seine Geliebte von ihren Peinigern eingewickelt wieder. Auf der Flucht aus dem brutalen Götterstaat verleitet Eurydike ihren Geliebten, die göttliche Auflage zu brechen und ihr einen Blick zuzuwerfen. „Blicke sind die tödlichen Pfeile des Teufels“ heißt es hier so treffend im Libretto, und Eurydike wird vor den Augen Orfeos mit der Pistole hingerichtet. Die Erzählebene bricht ab, und der Prophet besteigt sein rettendes Schiff, nicht, ohne seine Rückkehr zu versprechen.

Wirr finden die beiden Ebenen der Handlung in der Regie von Annette Lubosch zusammen, und die Abgrenzung ist nur schwer erkennbar. Die Fülle der Botschaften zwischen Liebe, Krieg, Terror, Gewalt und arabischer Philosophie belasten den Handlungsablauf und finden in knapp zwei Stunden nur geringe berührende Ausdruckskraft, verglichen mit den vorangegangenen Projekten. Hilfreich zum Verständnis sind an diesem Abend die Erläuterungen aus dem Programmheft.  Mit den beengten Räumlichkeiten im Keller des Hofspielhauses wird ein intimer Rahmen für die Thematik gewählt, der mitreißende Funke aber kommt nicht so recht zustande.

Cornelia Lanz als Orfeo – Foto © Stefanie Simbeck

Der Kammermusiker, Dirigent und Solist Norbert Groh, Professor an der Hochschule für Musik und Theater in München, hat die musikalische Leitung und Gestaltung des Abends übernommen. In einer gelungenen Auswahl berührender Arien und Duette aus den verschiedenen Kompositionen können Cornelia Lanz als Orfeo und Sela Bieri als Eurydike ihr gesangliches, aber auch spielerisches Können zum Besten geben. Die Mezzosopranistin Lanz ist auch die Verantwortliche der bisherigen Produktionen des Vereins Zuflucht Kultur und wurde für ihr außerordentliches Engagement mit Preisen ausgezeichnet. In ihre Gestaltung des trauernden Helden legt sie viel menschliche Wärme und leidvollen Ausdruck. Stimmlich lässt sie Trauer und Leid in ihre Färbung bis zu zitternden Tremoli fließen. Erfahren im Umgang mit akustisch schwierigen Raumsituationen passt sie die Kraft und Lautstärke umsichtig an. Gleiches gelingt der Sopranistin Bieni im Umgang mit hohen Spitzentönen, die sie sicher und wohl intoniert ohne Mühen erreicht. In lyrisch ausgerollten Melodiebögen lässt sie ihr helles volles Timbre aufblühen. Der im November 2016 nach Deutschland geflüchtete Maher Hamida zeigt sein Rapper-Talent in einer mitreißenden, in arabischer Sprache ausgeführten Solonummer. Der Iraker Ayden Antanyos hatte bereits in seiner Heimat eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen und arbeitet seit 2010 als Kameramann in Deutschland. In seiner Ausgestaltung der prägenden Rolle des philosophischen Propheten lässt er an diesem Abend Präsenz und Überzeugungskraft vermissen. Wissam und Walaa Kanaieh gestalten zwei Frauenrollen, die in der Dramaturgie keine klaren Rollen definiert bekommen. Mit Gitarre und Gesang fügt sich Mazen Mohsen in die Geschichte des Abends ein.

Das Publikum spendet begeistert Beifall für eine berührende Atmosphäre, die aus der Verbindung sowie Überlagerung der unterschiedlichen Kulturen durch das ehrliche und herzliche Spiel aller Beteiligten geschaffen wird. Bekannte, abgestumpfte Realitäten und Gefühle werden in einen neuen Kontext gesetzt und so wieder in dringend notwendige Erinnerung gebracht.

Helmut Pitsch