O-Ton

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Macht der Zerstörung

LUISA MILLER
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
9. Mai 2023
(Premiere am 5. Mai 2023)

 

Staatstheater am Gärtnerplatz, München

Kabale ist ein veralteter Begriff, steht für „Intrige“ oder „Ränkespiel“ und bedeutet „im Verborgenen betriebene Machenschaften zur Erreichung niederträchtiger Ziele.“ Kabale und Liebe ist ein Drama in fünf Akten von Friedrich Schiller und wurde am 13. April 1784 in Frankfurt am Main uraufgeführt. Es gilt als typisches Beispiel des „Sturm und Drang“, einer literarischen Strömung der Epoche der Aufklärung, und zählt heute zu den bedeutendsten deutschen Theaterstücken. Das von Schiller ursprünglich Louise Millerin genannte bürgerliche Trauerspiel bekam erst auf Vorschlag des Schauspielers August Wilhelm Iffland den publikumswirksameren Titel Kabale und Liebe und handelt von der leidenschaftlichen Liebe zwischen der bürgerlichen Musikertochter Louise Miller und dem Adelssohn Ferdinand von Walter, die durch niederträchtige Intrigen, also Kabalen zerstört wird. Friedrich Schillers literarisch-dramatisches Werk stand bei dem Opernkomponisten Giuseppe Verdi hoch im Kurs. Vier seiner Dramen bildeten die Vorlagen für Opern des Italieners, darunter Kabale und Liebe. „Es ist ein großartiges Drama, voller Leidenschaft und theatralisch sehr effektvoll“, lobte Verdi selbst den Stoff. 65 Jahre nach dessen Uraufführung adaptierte der Italiener das bürgerliche Trauerspiel fürs große Musiktheater. 1849 kam Luisa Miller im seinerzeit größten Opernhaus Europas heraus, dem Teatro San Carlo in Neapel. In bester Donizetti- und Bellini-Nachfolge schuf Verdi darin Charakterstudien einer autoritären Gesellschaft.

Regisseur Torsten Fischer hat nun dieses düster-dramatische Werk Verdis, das aus dessen „Galeerenjahren“ stammt, als brutale Charakterstudie mit Bezug zu heutigen totalitären Regimes auf die Bühne des Gärtnerplatztheaters gebracht. In der Werbung für diese Oper hieß es „Da ist der Wurm drin“. Diese alte Redensart ist in diesem Fall aber wörtlich zu nehmen, denn Wurm ist eine der dunklen Hauptfiguren dieses Werks, von Fischer als Gruftie mit schwarzem Lederoutfit, Totenkopfgürtelschnalle, blassem Gesicht und schwarz geschminkten Augen- und Lippenpartien sehr plakativ dargestellt. Ein Typ, dem man ungerne im Dunkeln begegnen möchte. Und er steht auf Luisa, die Tochter des Militärpfarrers Miller. Die ist zwar verliebt, aber nicht in den gräflichen Handlanger Wurm, der sie stetig bedrängt, sondern in Rodolfo, der sich ihr unter falscher Identität genähert hat und sich als Sohn des Militärdiktators Graf von Walter entpuppt und ihre Leidenschaft erwidert. Aber eine Schwiegertochter aus einfachen Verhältnissen kommt für den nur auf Machterhalt fokussierten Grafen, der für den eigenen Vorteil über Leichen geht, nicht in Frage. Standesgemäß soll Rodolfo die Herzogin Federica von Ostheim heiraten, und für den widerlichen Wurm wäre der Weg zu Luisa frei. Der Graf und sein Wurm spinnen eine giftige Intrige, um das junge Glück zu zerstören und sich selbst Ansehen, Macht und Reichtum zu sichern, mit fatalem Ausgang. Denn es gilt zusätzlich ein düsteres Geheimnis zu wahren, wie Walter einst mit Brutalität und Mord an die Macht gekommen ist.

Der Zuschauer sieht die Vorgeschichte schon während der Ouvertüre. Zunächst erblickt man zwei weiß gekleidete Kinder vor dem noch geschlossenen Vorhang, es sind Luisa und Rodolfo, die da vertraut miteinander umgehen. Dann öffnet sich der Vorhang, auf dem Boden liegen zwei Dutzend Soldaten in modernen Kampfanzügen, anscheinend tot. Walter, mit einer schwarzen Gesichtsmaske, hat das Massaker befohlen. Sein Scherge Wurm erschießt den Anführer, die Soldaten erheben sich wieder, der Militärputsch ist gelungen, Walter ist blutig an die Macht gekommen. Und die Kinder werden auseinandergerissen und werden sich erst als Erwachsene unerkannt wiedersehen.

Die drei Akte dieser Oper tragen die Überschrift Liebe, Intrige und Gift. Im Mittelpunkt des ersten Aktes steht die unerfüllte und unglückliche Liebe zwischen Luisa und Carlos, der in Wirklichkeit Rodolfo ist, der Sohn des Grafen Walter. Rodolfo und Luisa wollen heiraten, doch das verhindert Walter, der seinen Sohn berechnend mit der Herzogin von Ostheim verheiratet sehen will. In seiner Verzweiflung droht Rodolfo, das dunkle Geheimnis seines Vaters zu enthüllen und publik zu machen, was das Ende des Diktators bedeutet hätte. Und fast sieht es am Schluss des ersten Aktes so aus, als ob das Volk sich gegen den Diktator erhebt. Doch der zweite Akt zeigt, wie grausame Machthaber immer wieder davonkommen und mit welchen perfiden Tricks sie ihre Macht sichern. Luises Vater Miller ist mittlerweile in die Hände des Diktators gefallen ist und soll hingerichtet werden. Um ihren Vater zu retten, schwört Luisa, auf Rodolfo zu verzichten und eine Verbindung mit Wurm einzugehen, während Rodolfo, der die Hintergründe von Luisas Sinneswandel nicht kennt, nun aus Rache die Herzogin heiraten soll. Doch der denkt nur noch an den Tod. Und so steht im dritten Akt der Freitod von Luisa und Rodolfo mittels eines Gifttranks im Vordergrund. Im Sterben verflucht Rodolfo seinen Vater, und der Intrigant Wurm schneidet sich in einem letzten Akt von Größe die Kehle durch, und wieder liegen die Soldaten tot auf dem Boden, durch einen Parabolspiegel aus der Vogelperspektive anzuschauen. Am Schluss sind es wieder die beiden Kinder, die zwischen den Leichen durchgehen und einen Schimmer Hoffnung auf eine neue Zukunft verbreiten.

Im Vordergrund des Bühnenbildes von Herbert Schäfer stehen übergroße verschiebbare Stellwände mit dem Porträt von Marguerite Khnopff aus dem Jahre 1887, gemalt von ihrem Bruder Fernand. Der betrachtete den Menschen als ein isoliertes Individuum, das nicht auf die Unterstützung seiner Mitmenschen zählen kann und dessen Leben immer in Einsamkeit endet.  Dargestellt im weißen Kleid, der Farbe der Unschuld, entspricht das Frauenbild einem Ideal und steht natürlich symbolisch und übergroß für Luisa Miller. Die Kostüme, von Vasilis Triantafillopoulos entworfen, sind zeitlos modern, die Uniformen des Diktators erinnern durchaus an real existierende Militärs, auch in Europa.

Im Vordergrund der Personenregie sind die psychologischen Beziehungskonstrukte untereinander. Neben der unglücklichen Beziehung Luisas zu Rodolfo ist es auf der einen Seite ihre Liebe zum Vater, während Rodolfo für seinen Vater mehr Hass und Verachtung empfindet. Dazwischen Wurm, dem Machthaber treu ergeben und seine Befehle ausführend, und gefangen zwischen seiner Gier für Luisa und seiner Eifersucht auf Rodolfo, während die Herzogin mehr zu einer Statistin degradiert ist. Fischer schafft es mit seiner Inszenierung, einen düsteren Spannungsbogen zu konstruieren, den er während des gesamten Werks aufrecht hält und aus dem etwas literarisch-konstruiertem Inhalt eine moderne und spannende Geschichte macht, wie sie sich auch heute innerhalb eines totalitären Regimes abspielen kann und dabei dem Zuschauer den Spiegel der Angst vor genau diesen Systemen, wie wir sie auch heute kennen, vor die Augen hält.

Musikalisch und sängerisch ist das große Oper, was an diesem Abend im Gärtnerplatztheater gegeben wird. Verdis Musik der eher unbekannten und selten gespielten Oper deuten in Stil und Ausrichtung schon genau auf seine wenige Jahre später folgenden drei großen Opern Rigoletto, Il Trovatore und La Traviata hin. Wieder einmal beweist das Gärtnerplatztheater, dass es nicht nur Heimat der Spieloper und der Operette ist, sondern auch die große dramatische Oper in der Originalsprache zum Repertoire gehört. Mit Jennifer O’Loughlin, die sich seit einem Jahr Bayerische Kammersängerin nennen darf, verfügt das Haus seit Jahren über eine Sängerin allererste Güte, die für die Besetzung der Luisa als ideal zu bezeichnen ist. Sie verfügt über einen klaren, hellen Sopran, mit sauber geführten Koloraturen und der nötigen Dramatik in den Höhen. Zudem gibt sie der Rolle einen zutiefst menschlichen Charakter, gefangen zwischen der Liebe zu Rodolfo und ihrem Vater. Ihre Verachtung gegenüber Wurm und ihre Bereitschaft, mit Rodolfo zu sterben, wird von O’Loughlin sehr ausdrucksstark interpretiert. Zurecht wird sie am Schluss für Ihre Leistung bejubelt. In Jenish Ysmanov als Rodolfo hat sie einen starken Belcanto-Tenor an ihrer Seite, dessen Erfahrung in diesem Fach die ambivalente Ausprägung der Rolle zu einem Erlebnis werden lässt. Dramatisch im Ausdruck, ohne den Schöngesang dabei aus den Augen zu verlieren, ein ebenbürtiger Partner der O’Loughlin.

Timos Sirlantzis spielt den Widerling Wurm auf so eine perfide Art genial, dass einem beim Zusehen Angst und bange werden kann. Und stimmlich beeindruckt der junge Sänger mit kräftig markantem Bassbariton. Eigentlich singt er fast zu schön für seine Rolle. Gleiches kann und darf man über Inho Jeong sagen, der mit der Partie des Grafen von Walter am Gärtnerplatztheater sein Deutschlanddebüt gibt und mit stimmlichem Wohlklang und ausdrucksstarkem Spiel eine absolute Entdeckung ist. Man kann nur hoffen, den jungen Sänger in seiner Entwicklung weiter begleiten zu können und ihn in weiteren starken Rollen zu sehen. Für die etwas undankbare Rolle der Herzogin von Ostheim ist die dramatische Mezzosopranistin Anna Agathonos fast schon eine Luxusbesetzung, die mit starker Bühnenpräsenz spielerisch und musikalisch die Partie veredelt. Eine tragende Säule im Ensemble des Gärtnerplatztheaters ist Matija Meić, der mit kraftvollem Bariton und dramatischem Spiel den am Schluss verzweifelten Miller gibt. Caroline Adler, Mitglied des Chors des Staatstheaters am Gärtnerplatz, lässt in der kleinen Rolle als Laura mit schönem Sopran aufhorchen. Ein Sonderlob haben sich die Kinder Elsa Mackensen und Elias Fliaster als junge Luisa und junger Rodolfo verdient, die wie ihre großen Kollegen schon eine bemerkenswerte Bühnensicherheit zeigen.

Der Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz ist von Pietro Numico hervorragend einstudiert und spielerisch bestens aufgelegt. Das Orchester spielt einen intensiven und farbenreichen Verdi. Anthony Bramall, der scheidende Dirigent, scheint seine letzten Vorstellungen am Haus zu genießen, er zeigt einmal mehr, dass er für dieses Genre ein absoluter Experte ist. Die Tempi, die er anschlägt, sind nicht zu schnell, und Bramall hat Muße für die typischen Verdi-Bögen; Phrasierungen lässt er das Orchester und die Sänger ausmusizieren und bildet so das Fundament für einen großen musikalischen Abend.

Am Schluss gibt es im nicht ganz ausverkauften Haus großen Jubel für alle Protagonisten, unter denen Jennifer O’Loughlin etwas herausragt. Aber es ist wieder einmal eine große Leistung des gesamten Ensembles einschließlich Chor und Orchester. Und die Inszenierung, so düster sie auch ist, sie macht was mit den Zuschauern, lässt Emotionen und Ängste spürbar werden. Fischer hat mit seiner Interpretation einen Nerv getroffen. Und Kompliment an das Haus, auch mal einen weniger bekannten Verdi aufs Programm zu setzen.

Andreas H. Hölscher