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Endlichkeit des Irdischen

DAS LIED VON DER ERDE
(Gustav Mahler)

Besuch am
21. März 2021
(Einmalige Aufführung/Live-Stream)

 

Bayerische Staatsoper München

Im Rahmen ihrer Reihe Montagsstücke setzt die Bayerische Staatsoper München ihre live im Stream übertragenen Konzerte fort, die Nummer XIV mit einer ganz besonderen Rarität, Gustav Mahlers Lied von der Erde in der selten gespielten Fassung für Klavier und Gesang. Das Lied von der Erde entstand von 1907 bis 1908 in Toblach. Es war eine Zeit, die für Mahler von privaten Schicksalsschlägen geprägt war. Obwohl er bereits zehn Jahre zuvor zum Katholizismus konvertiert war, führten eine antisemitische Pressekampagne gegen ihn und Streitigkeiten mit seinen Vorgesetzten bei Hof dazu, dass Mahler vom Amt als Direktor der Wiener Hofoper 1907 zurücktrat. Doch während sich diese Tür für ihn schloss, öffnete sich eine neue: Als abzusehen war, dass seine Zeit in Wien zu Ende gehen würde, unterschrieb er einen Vertrag, um von 1908 an als Gastdirigent an der Metropolitan Opera und des Philharmonic Orchestra in New York zu wirken. Zuvor verstarb seine Tochter Anna Maria im Alter von nur vier Jahren an Diphterie. Kurz darauf wurde bei ihm selbst eine schwere Herzkrankheit diagnostiziert, die den bis dahin energiegeladenen Mann zu einer rigorosen Umstellung seiner Lebens- und Arbeitsgewohnheiten zwang und an der er schließlich einige Jahre später starb. Die Uraufführung fand posthum am 20. November 1911 in der Münchener Tonhalle unter der Leitung von Bruno Walter statt.

Im Lied von der Erde, diesem symphonischen Liederzyklus, verbindet Mahler – wie schon in früheren Werken – gegensätzliche Themen wie Tod und Leben, Diesseits und Jenseits, Werden und Vergehen. Er besteht aus sechs Teilen, in denen Mahler sieben chinesische Gedichte der Tang-Dynastie aus der deutschen Nachdichtung Die chinesische Flöte von Hans Bethge vertont hat. An manchen Stellen nahm er kleine Änderungen am Text vor, zum Beispiel ersetze er den Titel Am Ufer von Bethge durch Von der Schönheit. „Das Lied von der Erde ist der persönlichste Laut in Mahlers Schaffen, vielleicht in der Musik“, meinte der große Dirigent Bruno Walter über diese Komposition, in der Gustav Mahler die Intimität des Liedes mit der Monumentalität der Symphonie verschmolzen hat. Seine eigene Klavierfassung legt den Fokus auf den ersten dieser beiden Aspekte: Sie hört noch mehr nach innen und legt sensibel die filigrane Textausdeutung frei, mit der Mahler die Nachdichtungen altchinesischer Gedichte in Klang versetzt hat.

Wohl kaum je ist die Endlichkeit des Irdischen auf derart schmerzvoll desillusionierende und doch zugleich berückende Weise Klang geworden wie in diesem Werk in seiner unaufgelösten Polarität von Diesseits und Jenseits, Werden und Vergehen, Leben und Tod. Neben der Originalfassung mit Orchester gibt es auch eine von Arnold Schönberg als Fragment hinterlassene und von Rainer Riehn vollendete Instrumentierung für Kammerorchester. Aufgrund der aktuellen Pandemie-Lage verzichtet die Bayerische Staatsoper auf die Orchesterfassung und spielt die von Gustav Mahler selbst erstellte Fassung mit Klavierbegleitung. Sind die ersten Sätze noch mit Melancholie und den Themen Tod und Vergänglichkeit durchdrungen, so kontrastieren die folgenden Sätze damit. Sie besingen in heiterer Stimmung Jugend und Schönheit. Der fünfte Satz spannt den Bogen vom Frühling zu dem finalen Schlusssatz Der Abschied. Dieser setzt sich aus zwei Gedichten zusammen und erhält durch seine Länge besonderes Gewicht, denn er ist etwa so lang wie alle vorangegangenen Sätze zusammen. Auch hier, am Ende des Werkes, treffen zwei gegensätzliche Themen aufeinander: Abschiedstrauer und Ewigkeitsnähe.

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Der erste Satz ist Das Trinklied vom Jammer der Erde. Allegro pesante. Tenor Klaus Florian Vogt eröffnet mit diesem düsteren Satz den sinfonischen Liederzyklus. Es ist das Lied eines von Todessehnsucht geplagten Menschen, der den Freunden ein melancholisches Trinklied präsentiert. „Seht dort hinab! Im Mondschein auf den Gräbern, hockt eine wild-gespenstische Gestalt. Ein Aff’ ist’s! Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt in den süßen Duft des Lebens! Jetzt nehmt den Wein! Jetzt ist es Zeit, Genossen! Leert eure gold’nen Becher zu Grund! Dunkel ist das Leben, ist der Tod!“ Mit diesen Worten endet das erste Lied. Und es ist klar, diese Texte, mit einer schwermütigen Musik unterlegt, verlangen eine sehr chromatische Interpretation, mit Akzentuierung in der Phrasierung und Deklamation, um der Bedeutung von Wort und Musik Ausdruck zu verleihen. Das alles lässt Vogt vermissen, seine eh sehr einseitige Stimmführung ist für diese Art von Liedform wenig geeignet, zumal der Stimmgestaltung bei Klavierbegleitung noch eine viel tragendere Rolle zukommt. Vogts Darbietung ist wenig nuanciert, in den Höhen klingt die Stimme gepresst, der Vortrag klingt langweilig und nichtssagend. Das gilt auch für den dritten Satz Von der Jugend. Behaglich heiter. Bei Vogt ist wenig Unterschied zu spüren, ob die Stimmung des Liedes düster oder heiter ist, er setzt seine Interpretationslinie ohne große Abstufungen fort. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er mit dieser Art von Liedgesang einfach fremdelt. Auch seine Darbietung von Richard-Strauss-Liedern in dem Konzert Zueignung vom 20. November des letzten Jahres an selber Stelle zeigte diese Einseitigkeit der Stimmführung, wobei ihm Strauss noch eher liegt als Mahler. Am eingängigsten ist da für ihn der fünfte Satz Der Trunkene im Frühling. Allegro. Keck aber nicht zu schnell. Dieses Lied liegt ihm sowohl textlich als auch von der musikalischen Interpretation am besten: „Was hör ich beim Erwachen? Horch! Ein Vogel singt im Baum. Ich frag’ ihn, ob schon Frühling sei, mir ist als wie im Traum. Der Vogel zwitschert: Ja! Der Lenz ist da, sei kommen über Nacht! Aus tiefstem Schauen lauscht’ ich auf, der Vogel singt und lacht!“ Die thematische und musikalische Verwandtschaft zu Walther von Stolzings „Fanget an“ im ersten Aufzug der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner liegt ihm deutlich mehr, und seine feinfühlige Interpretation dieser Partie hat er in den zurückliegenden Jahren immer wieder bewiesen. Daher ist sein Vortrag schon bedauerlich, denn mit der Darbietung in diesem anspruchsvollen Mahler-Zyklus bleibt er deutlich hinter den Erwartungen zurück.

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Ganz anders dagegen Bariton Christian Gerhaher. Schon seine Kleidung verrät eine ganz andere Haltung. Lässig im Anzug mit offenem Hemd, während Vogt im Smoking mit Fliege doch etwas steif und förmlich daherkommt. Und Gerhaher, der über ein großes Repertoire an Liedern verfügt und auch diverse Mahler-Zyklen für CD eingespielt hat, hat in Gerold Huber einen gut vertrauten Begleiter am Flügel, beide sind sie im selben Jahr in Straubing geboren, und beide verbindet eine langjährige Künstlerfreundschaft. Und schon in seinem ersten Lied, dem zweiten Satz Der Einsame im Herbst. Etwas schleichend. Ermüdet zeigt sich die große Erfahrung von Gerhaher als Lied- und Oratoriensänger. Gerhaher verfügt über schon fast tenorale Höhen mit einer warmen Mittellage. „Ich weine viel in meinen Einsamkeiten. Der Herbst in meinem Herzen währt zu lange. Sonne der Liebe, willst du nie mehr scheinen, um meine bittern Tränen mild aufzutrocknen?“ So endet das zweite Lied, und Gerhahers Interpretation, seine Deklamation und das Spiel mit seiner Stimme geben der Melancholie und Traurigkeit dieses Satzes einen großen Rahmen. Der Wechsel von der Schwermut des zweiten Satzes zur heiteren Ausprägung des vierten Satzes Von der Schönheit. Comodo. Dolcissimo gelingt ihm ohne Bruch, und der Vortrag ist heiter und freudvoll. Sein großer Auftritt ist natürlich der sechste und letzte Satz Der Abschied. Schwer. Mit rund 30 Minuten ist er in etwa genauso lang wie die fünf Sätze zuvor. Und er verlangt viel von dem Sänger. Weltschmerz, Abschied, Trauer und Frieden zugleich, all das hat Mahler zu einer großen musikalischen Dichtung geformt, die schon für sich alleine genommen ein bedeutendes Werk darstellt. „Er sprach, seine Stimme war umflort: Du, mein Freund, mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold! Wohin ich geh’? Ich geh’, ich wand’re in die Berge. Ich suche Ruhe für mein einsam Herz!“ Es ist die Spätromantik, die Mahler hier noch einmal aufflackern lässt, und nach der langen Einleitung am Flügel, die Huber mit viel Gefühl spielt, zeigt Gerhaher, warum er zurecht einer der profiliertesten Liedsänger ist. Mit Pathos, aber auch viel Gefühl für die sensiblen Zwischentöne gestaltet er diesen Satz, mit immer neuen farblichen Nuancen in der Stimme. Die letzten beiden Worte „Ewig … ewig …“, mehrfach wiederholt, singt Gerhaher im zartesten piano, als ob er mit der Welt seinen Frieden gemacht habe und geläutert aus der selbigen scheiden kann. Es ist nach genau einer Stunde Spielzeit der Moment, an dem man den Atem anhält, entrückt von der Musik und dem Gesang, den man nicht loslassen möchte.

Und Huber am Steinway-Flügel gestaltet das Lied von der Erde kongenial. Mit leuchtenden Farben und starken Akzenten in den rein musikalischen Anteilen, und als begleitender Partner auf Augenhöhe beim Gesang. Eine insgesamt besondere Darbietung in dieser an großer Kunst armen Zeit.

Am Schluss gibt es Applaus und einen Bravo-Ruf der einzigen Zuschauerin in der Mittelloge. Ansonsten ist es still in der leeren Staatsoper, und irgendwie wirken die drei Künstler am Ende des Vortrages etwas verloren. Dafür ist die Kameraführung des Streams, der auch wieder von einer sehr guten Bild- und Tonqualität geprägt ist, so angelegt, dass man die Künstler aus vielen Perspektiven sehen kann, und nicht nur starr von vorne an der Rampe. Hätten wir normale Zeiten, dann würden wir Christian Gerhaher am Wochenende als Wolfram von Eschenbach in Wagners Tannhäuser erleben können. So haben wir dafür Gustav Mahlers Lied von der Erde, ein kleiner Trost in schweren Zeiten.

Andreas H. Hölscher