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Kinderstuben-Weihfestspiel im Stream

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Gesehen am
21. November 2020
(Premiere am 14. Dezember 1974)

 

Gärtnerplatztheater München

Alle Jahre wieder, zu Beginn der Adventszeit, erscheint Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel auf den Spielplänen vieler Opernhäuser. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Der Lockdown im November hat die Theater geschlossen, und es steht zu befürchten, dass diese für die Kultur untragbare Situation sich auch im Dezember fortsetzt. Also kein erstes Opernerlebnis für aufgeregte Kinder, kein Schwelgen in Nostalgie und Kindheitserinnerungen für den reiferen Opernfreund. Das darf nicht sein, dachte sich Josef E. Köpplinger, Staatsintendant des Gärtnerplatztheaters München, und entschied, mitten im Lockdown die mehrfach verschobene Spielzeitpremiere anzusetzen, ohne Publikum, dafür im Livestream. Und was eignet sich besser in diesen grauen Zeiten als Hänsel und Gretel, wenn seit fast 46 Jahren die Inszenierung in der Regie von Peter Kertz zum festen Programm vieler Münchner Familien gehört. Am 14. Dezember 1974 feierte diese Inszenierung ihre Premiere, und am 2. Dezember 2017 wurde sie unter der Leitung von Ferdinand Hofmann nach der Regie von Peter Kertz neu einstudiert und feierte vor zwei Jahren ihre 500. Aufführung seit der Premiere, nun stand die 515. Vorstellung auf dem Plan.

Kertz hat das Märchen ganz klassisch und konventionell auf die Bühne gebracht, kongenial ausgestattet von dem Kostüm- und Bühnenbildner Hermann Soherr. Da sieht man im ersten Bild eine einfache Holzhütte vor einem dunklen Tannenwald. Hänsel und Gretel toben herum, die Armut der Familie steht sprichwörtlich im Mittelpunkt, mit einer überforderten Mutter, die den einzigen Topf zerbricht. Das zweite Bild ist erst klassisch romantisch im Wald, dann kindlich schön, wenn nach dem Abendsegen die vierzehn Engel erscheinen und einen Schutzwall um das schlafende Kinderpaar bilden. Das Sandmännchen im erdfarbenen Kostüm fährt aus der Bühnentiefe hervor, während das Taumännchen von einem Baumgipfel seinen Tau versprengt, bevor es an einer Zugmaschine durch die Lüfte entschwindet.

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Für die meisten Kinder beginnt die Oper jedoch so richtig erst im dritten Bild, wenn die Knusperhexe erscheint. Und die lebt in einem Lebkuchenhaus, das so ausschaut, wie man es aus den alten Märchenbüchern der Gebrüder Grimm kennt. Ein großer, köchelnder Ofen, in dem die Hexe am Schluss verschwindet, darf natürlich nicht fehlen. Dass die Hexe auch noch von fünf koboldähnlichen Figuren unterstützt wird, ist neu in dieser Regie, passt aber wunderbar ins Bild und hat im Livestream sicher noch eine verstärkende Wirkung. Und so bietet die Inszenierung alles, was man als Kind oder als jung gebliebener Erwachsener von einer Märchenoper erwartet. Hänsel und Gretel ist eben nicht nur ein Märchenstück für kleine Kinder, sondern eine große, musikalisch anspruchsvolle Oper, wie Richard Strauss, der Dirigent der Weimarer Uraufführung von 1893 es treffend in einem Brief an Humperdinck formuliert hat.

Csilla Csövari singt die Partie der Gretel mit schönem lyrischem Sopran, der in den Höhen aber auch die notwendige Dramatik besitzt, und gestaltet die Partie mit mädchenhaft naivem Spiel. Anna-Katharina Tonauer weiß als Hänsel zu überzeugen; ihr kräftiger, warmer Mezzosopran ist ideal gelegen für diese Partie, da sieht man den Cherubino und meint schon den künftigen Octavian herauszuhören.  Mit großer Spielfreude zeigt sie die Facetten eines Lausbuben, die einfach zu dieser Partie gehören. Der gesungene Abendsegen zusammen mit Csilla Csövari ist sehr innig gestaltet, musikalisch sicher einer der vielen Höhepunkte des Abends.

Einen wunderbaren Kontrast bilden in dieser Aufführung die Eltern. Alexandra Reinprecht ist von ihrer Bühnenpräsenz und ihrer Ausstrahlung eine ideale Gertrud, die schimpft, keift und schließlich vor Sorge und Kummer erschöpft zusammenbricht. Ihr schon Wagner-erfahrener Sopran hat genau die Dramatik und das Vibrato, das für diese Rolle erforderlich ist. Mathias Hausmann verkörpert mit warmem Bariton und freundlichem Spiel eher den milden, sanften Besenbinder Peter, dem das Wohl seiner Kinder doch sehr am Herzen liegt und ist stimmlich der ideale Partner zu Reinprecht.  Anna Agathonos ist eine Knusperhexe wie aus dem Märchenbuch. Sie bringt als schon dramatischer Mezzosopran alle stimmlichen und spielerischen Elemente mit und setzt sie mit so großer Spielfreude um. Mit wunderschön hellem und klarem Sopran streut Julia Sturzlbaum als Sandmännchen nicht nur den Kindern Sand in die Augen, sondern weckt sie mit strahlender Höhe als Taumännchen wieder auf, optisch und sängerisch ein Genuss.

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Anthony Bramall, Chefdirigent am Gärtnerplatztheater, dirigiert das Orchester mit viel Differenzierung, dafür aber mit moderatem Tempo. Die große Schwierigkeit in der Umsetzung ist die Corona-bedingte Reduzierung des Orchesters, wenn diverse Instrumente wie beispielsweise die Bass-Tuba durch andere Instrumente ersetzt werden. Dem Kenner der Musik tut da die eine oder andere Stelle im Orchester, vor allem bei den Bläsern, schon etwas weh, den meisten aber werden die Änderungen eher nicht aufgefallen sein.

Die köstliche Naivität der Melodik, die Polyphonie, die Richard Strauss in seinem Brief an Engelbert Humperdinck beschrieben hat, arbeitet Bramall trotz reduzierter Besetzung gut heraus, schwelgt in den großen, fast Wagnerschen Orchesterszenen, um dann das Orchester in den getragenen Momenten wie dem Abendsegen wieder zurückzunehmen. Die Lebkuchenkinder, Mitglieder des Kinderchores des Gärtnerplatztheaters, dürfen am Schluss wieder quicklebendig auf der Bühne herumtoben. Ein Augenschmaus sind die vierzehn Engel der Traumpantomime, optisch sicher das schönste Bild dieser Inszenierung, ganz im Sinne des Komponisten, der sein Werk selbst als „Ein Kinderstuben-Weihfestspiel“ bezeichnet hat, in Anlehnung an das Bühnenweihfestspiel Parsifal.

Am Schluss gibt es dann den wohlverdienten Applaus und Jubel für die Kollegen auf der Bühne. Um nämlich den Live-Charakter so gut wie möglich zu vermitteln, Publikum aber nicht zugelassen war, durften etwa 50 bis 70 Mitarbeiter des Gärtnerplatztheaters, die normalerweise hinter der Bühne arbeiten, mit Maske und entsprechendem Abstand die Vorstellung erleben. Eine schöne Geste. Und in der Pause gibt es Interviews, die Köpplinger mit den Darstellern und dem Dirigenten führt. Neben Hintergrundwissen zu dieser Inszenierung und Aufführung erfährt man allerlei amüsantes, so schwört Csilla Csövari auf Ingwerkekse, die besonders gut für die Stimme sein sollen. Und Köpplinger leitet nicht nur die Interviews in der Pause, sondern leitet auch sehr charmant in die Aufführung ein. Ein umfangreiches Begleitmaterial zur Oper ist online eingestellt, einschließlich einer kurzen Oper-Hörfassung für Kinder und einem Rezept für Lebkuchen und Glühwein. Diese Premiere des Livestreams darf man daher als großen Erfolg werten, auch wenn die Bildqualität der Übertragung im ersten Akt nicht besonders gut ist, was leider bei der Traumpantomime nach dem Abendsegen zu einem sehr verschwommenen Bild führt. Aber über 10.000 Aufrufe der Übertragung sprechen für sich, und man kann nur hoffen, dass nach diesem Erfolg weitere Streams folgen, solange wir nicht ins Theater dürfen.

Andreas H. Hölscher