Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
EUGEN ONEGIN
(Pjotr I. Tschaikowski)
Besuch am
14. Januar 2023
(Premiere am 11. Oktober 2007)
Warum nicht gleich so? High Noon mit Eugen Onegin. Cowboys zitieren vorm Balkongeländer Fred Zinnemanns filmischen Wildwest-Klassiker. Mit dem Duell von Onegin mit seinem Freund Lenski nach der Pause nimmt die Aufführung dramaturgisch endlich die Fahrt auf, die man sich von Anfang an gewünscht hätte.
Pjotr I. Tschaikowskis Opernkomposition folgt Alexanders Puschkins literarischer Vorlage in zweiteiliger Perspektive. Das von Langeweile und Gewöhnung durchwehte Leben in der Provinz dämmert vor sich. Mit dem Auftauchen von Onegin und Lenski geraten Olgas und Tatjanas Gefühle in Verwirrung. Im ersten Teil eine Beschreibung von Liebe und Träumen, unerfüllten wie auch missverstandenen. Eine sozialgesellschaftliche Narration über die wohlhabende russische Gesellschaft am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Der zweite Teil spielt Jahre später. Eine Reflexion, eine Tragödie über die dunklen Seiten menschlicher Existenz.
Gebrochen in zwei Teile, assoziiert Eugen Onegin eine doppelte Perspektive. Eine Perspektive, die global zu erlebende Wirklichkeit mit künstlerischen Ausdrucksformen und -möglichkeiten verbindet. Tschaikowskis Oper, Lyrische Szenen in drei Akten in sieben Bildern ist seit der Uraufführung 1879 in Moskau mit Abstand die wohl meistgespielte russische Oper. Krzysztof Warlikowskis Inszenierung aus dem Jahr 2007, jetzt an der Staatsoper München in Originalsprache gesungen, legt die Frage nahe: Warum 2023, wo Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits ein Jahr lang Verheerung, Tod und Schrecken bringt, diese Wideraufnahme?
Foto © Wilfried Hösl
2007 schien es, als habe sich die Weltgemeinschaft auf eine in den Zeiten des kalten Krieges heftig beschworene friedliche Koexistenz nachhaltig verständigt. Das war offensichtlich ein Fehlschluss. Die Finanzkrise 2008 stand noch bevor wie die militärische Annexion der Krim schicksalhaft hingenommen wurde und die Flüchtlingsbewegungen seit 2015 bis dahin scheinbar verlässliche Zukünfte konterkarierten. Die Welt hat sich total geändert. Sie hat sich gedreht. Im Spiegel der Kunst scheinen Wirklichkeit und Traum auf. Nicht bildlich real, eher surreal verzerrt, stellt entsprechend auch jede Opernaufführung Fragen.
Elena Guseva, Victoria Karkacheva, Roman Burdenko und Bogdan Volkov als auch der Dirigent Timur Zangiev, in Russland geboren und ausgebildet, sind inzwischen weltweit auf allen großen Bühnen gefragte Solisten. So gesehen, ist diese Wiederaufnahme ein deutliches Statement und Bekenntnis für die Freiheit der Kunst.
Das verstehen die Opernbesucher in der vollbesetzten Staatsoper offenbar ebenso. Begeisterter Zwischenapplaus für einzelne Soli sowie enthusiastischer Jubel am Ende nach mehreren Vorhängen.
Zunächst lässt sich die Aufführung eher zäh an. Es braucht einige Zeit, bevor sich Zangiev und das Bayerische Staatsorchester sowie der Bayerische Staatsopernchor, von Stellario Fagone flexibel eingestellt und mit der Choreografie von Saar Magal ebenso bewegt, und die Solisten zu einer evidenten Klanggemeinschaft zusammenfinden. Zangiev forciert anfänglich – leider auch später immer wieder – unbedingtes Fortissimo. Er bestreitet damit den Solisten manche notwendige Lufthoheit. Das verwundert insbesondere deshalb, weil er ansonsten den romantischen, hin und wieder den Kitsch streifenden Tschaikowski-Ton mit viel authentischem Gespür hörbar macht.
Dass Solisten trotz allem dagegenhalten, die Tonoberhoheit bewahren können, beweist Günther Groissböck in Doppelfunktion. Schon im Kurzauftritt des Sekundanten Saretzki in der Statur eines Bodybuilders sowie besonders als Graf Gremin artikuliert er kraftvoll tönend – russisch hin oder her.
Warlikowskis Inszenierung lebt von theatralen und filmischen Inspirationen. Neben Zinnemanns szenografischer Reflexion gibt es auch solche, die an David Lynchs Film Blue Velvet erinnern. Małgorzata Szczęśniaks Bühnenarchitektur und Kostüme, welche die 1970-er mit Spielhalle, Glücks- und Billardspiel mit verblasstem Charme zitieren, ist für Warlikowskis Inszenierungsidee eine kommunikative Brücke über 100 Jahre zurück. Wie einst über eine Brücke, über einen schmalen Steg …, träumt Olga ihrer kummervollen Schwester Tatjana vor.
Existenzielle Fragen laufen mit. Was wäre, wenn, eine Entscheidung an einer bestimmten Wegkreuzung, die damit den Verlauf des Lebens entscheidend, ja, unumkehrbar gemacht hat, eine andere gewesen wäre? Alles ist anders, bleibt anders gleich. Häufig ein Kreisen um sich selbst ohne selbstbestimmtes Zentrum. In der Pause ist zu beobachten, wie die meisten Opernbesucher durch die obere, gläserne Wandelhalle in Uhrzeigerrichtung flanieren. Kaum jemand, der gegen diese Richtung läuft.
Foto © Wilfried Hösl
Keine Duelle in männlicher Verklärungspose mehr, aber der Bedarf nach leicht verdaulicher Unterhaltung ist ungebrochen. Warlikowski gibt den Solisten Mikrofone in die Hände. Sie tanzen und bewegen sich in Pop-Performance-Art. Tatjana schreibt nicht ihren schicksalhaften Brief an Onegin. Sie diktiert ihn auf Band. Jugendliche Zuschauer – kaum zu sehen in der Staatsoper – vermögen selbst das in Zeiten von Social Media kaum noch zu verifizieren.
Die Stimme des Abends ist der Sopran von Elena Guseva. Sie entführt ihre Tatjana in dunkel tönende Tag-Nacht-Träume. Sie steht, ihren Brief schreibend, entkleidet im Unterkleid, während auf dem mobilen TV-Bildschirm eine Bildstörung flackert. Sie erschrickt über ihren Mut, erstickt ihn ahnungsvoll. Parallel flimmert ein TV-Testbild. Als spätere Frau des Grafen Gremin schaltet Guseva ihren Sopran in der Wiederbegegnung mit Onegin noch eine Stufe höher. Er schwirrt glühend und trotzdem beherrscht: Leb wohl auf ewig.
Burdenko gelingt es nicht durchgängig, der ambivalenten Figur des Onegin die jeweilige Rollenauthentizität zu geben. Sein Tenor verliert sich teilweise in einem stilisierten Vibrato, dem manchmal die letzte Überzeugungskraft fehlt. Im Gegensatz zu ihm klangmalt Bogdan Volkovs Tenor als Lenski mit lyrischer Kraft. Insbesondere die sich in der Tanzgesellschaft entwickelnde Rivalität um Olga zwischen ihm und Onegin und in der dem Duell vorausgehenden Todesahnung überzeugt Volkov nachhaltig.
Victoria Karkacheva hat als Olga in den ersten Szenen ihren großen Auftritt. Romantisch verklärt, vibriert ihr Mezzosopran erotisierend. Wirft Schatten in den Spielhallenspiegel, als würde sich mit der Ankunft der beiden Städter Onegin und Lenski die Langeweile als Sonnenaufgang in der Provinz emblematisch zu einem Vulkanausbruch steigern.
Großes, zeitunabhängiges Warlikowski-Kino in der Staatsoper München.
Peter E. Rytz