O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Kult trifft Realität

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)

Gesehen am
30. November 2020
(Premiere am 14. Juni 1969)

 

Bayerische Staatsoper München

Als am 14. Juni 1969 in der Bayerischen Staatsoper München Giacomo Puccinis La Bohème in der Inszenierung von Otto Schenk Premiere feierte, kam am selben Tag in Mannheim Steffi Graf zur Welt. Beide, Schenk und Graf, wurden gefeierte Ikonen in ihrem Metier und haben heute Kultstatus. Otto Schenk, dem wir so viele kostbare und klassische Inszenierungen verdanken, feierte in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag. Und in diesen schwierigen Zeiten ist eine Aufführung dieses Herz-Schmerz-Stückes Puccinis Balsam für die Seele, und optisch ist die Klassiker-Inszenierung eh ein Gedicht. Komplettiert man das noch mit herausragenden Sängern, dann ist das Erlebnis perfekt, aber nur fast. Natürlich sind die Theater geschlossen, aber das gilt nur für das Publikum. Für die Reihe Montagsstücke wurde La Bohème am 27. November aufgezeichnet und drei Tage später im Staatsopern-TV kostenfrei als Livestream ausgestrahlt. Die bekannte Geschichte um vier arme Künstler-Freunde im vorweihnachtlichen Paris Mitte des vorletzten Jahrhunderts, die kurze Liebe zwischen Rudolfo und Mimì in einer ärmlichen und frostigen Mansarde und einem eiskalten Händchen begeistert mit ihren großen Arien, Duetten und Ensemblestücken. Und es ist natürlich nicht nur die Inszenierung Schenks mit seinem Fingerspitzengefühl für die romantischen, tragischen, aber auch komischen Elemente in den Beziehungsgeflechten untereinander, es ist auch das klassische Bühnenbild mit den passenden Kostümen des kongenialen und 1975 viel zu früh verstorbenen Rudolf Heinrich, das diese La Bohème so zeitlos macht. Und doch fehlt bei dieser Aufführung was ganz Entscheidendes: das Publikum. Es fehlt der Szenenapplaus nach O soave fanciulla, es fehlt die emotionale Interaktion zwischen den Künstlern auf der Bühne und den Zuschauern, der Chor kommt aus dem Off, ist aus Hygienegründen nicht auf der Bühne. Dafür trifft der Kultklassiker auf die Realität, wenn im zweiten Bild vor dem Café Momus der Kellner ganz korrekt eine Maske trägt. Ob Vorschrift oder szenischer Gag, es verdeutlicht uns mal wieder, auf was wir in diesen Tagen verzichten müssen.

Foto © Wilfried Hösl

Dafür ist es sängerisch wie musikalisch wie so häufig ein großer Abend für die Staatsoper München. Die Sopranistin Rachel Willis-Sørensen legt die Partie der Mimì sehr lyrisch an, mit einem warmen Timbre in der Mittellage und leuchtenden Höhen. Wie so viele Mimìs vor ihr stirbt sie am Schluss gesanglich viel zu schön. Jonas Kaufmann ist als Rodolfo eine interessante Besetzung. Der Wagner- und Verdi-gestählte Tenor hat wenig lyrischen Schmelz in der Stimme, wie beispielsweise ein Piotr Beczała. Dafür ist sein Rudolfo ein ernster, um die Liebe Mimìs ringender und verzweifelnder Charakter, dessen Stimme diese emotionalen Facetten mit dem Mix aus Heldentenor und Verismo-Charakter beleuchtet. Und mit Willis-Sørensen, mit der Kaufmann auch schon gemeinsam ein Operettenkonzert gegeben hat, harmoniert sein kraftvoller Tenor bestens. Die junge Sopranistin Mirjam Mesak gibt die Musetta mit kokettem Spiel und strahlenden Höhen, bei ihrem Walzer lässt sie Karel Martin Ludvig als ihren Begleiter Alcindoro ganz schön alt aussehen. Andrei Zhilikhovsky überzeugt als Marcello mit kraftvollem Bariton und schönem Ausdruck. Sean Michael Lumb hält mit seinem schmeichelnden Bariton als Schaunard wunderbar dagegen, während Tareq Nazmi mit balsamischem Bass und zurückhaltendem Spiel den Colline als Einzelgänger skizziert.

Hohes Niveau zeigt auch das Orchester der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Asher Fisch. Mit präzisem Schlag und moderatem Tempo lässt Fisch den Klangköper aus Orchester, Chor und Sängerensemble zur harmonischen Einheit werden, in dem sich der melodische und gleichzeitig ausdrucksstarke Puccini-Klang voll entfalten kann, ohne die Sänger zu überdeckeln. Stellario Fagone hat den Puccini-Klang von Haus aus im Blut und hat Chor und Kinderchor bestens darauf eingestimmt. Am Schluss, wenn der Vorhang fällt, fehlt natürlich der wohlverdiente Applaus mangels Publikum. Und so ist es ein stiller, ein trauriger Schluss dieser Vorstellung. Aber es ist immerhin eine aktuelle Aufführung und keine Jahre alte Konserve.

Die Qualität des Livemitschnitts ist sehr gut, sowohl Bildführung als auch Tonübertragung sind bestens. Ab Donnerstag ist diese Aufnahme als Video on Demand zu sehen, dann aber kostenpflichtig. Aber es lohnt sich, besonders an einem grauen Corona-Abend im Dezember 2020.

Andreas H. Hölscher